Nichts Halbes und nichts Ganzes

4. Januar 2013

Die Begrüßung zwischen Deinar und mir fällt aus, als seien wir alte Freunde. Das gibt ein warmes Gefühl in der allzu verwirrenden Kälte meiner augenblicklichen Tage.

Natürlich hat er noch 20 Minuten lang erst das eine, dann das andere, und jenes ebenfalls noch zu erledigen, aber es stört mich nicht einmal. Hier lässt mich ein Chaot warten, der weit mehr leistet als normal und deshalb nicht alle Dinge immer pünktlich auf die Reihe bekommt. Mit dem üblichen Trick, den anderen die eigene Macht spüren zu lassen, hat das nichts zu tun. Da will mir keiner beweisen, er sei mir derart überlegen, dass er eben jene Termine locker nehmen kann, auf die ich strengstens achten muss.

Als es dann endlich so aussieht, als sei alles andere erledigt, merke ich, wie Deinar einer zunehmenden Verlegenheit verfällt. Einen Augenblick dringt die Kälte wieder durch, an die ich mich so schnell und so gründlich gewöhnen musste. Die Habachtstellung, das immer auf dem Sprung sein, die Angst, jedes neue Wort, das mir jemand sagt, bringe eine neue Katastrophe. Zu sehr haben mich die schockierenden Umwälzungen der letzten knappen Woche gebeutelt, um nicht automatisch weitere schlimme Nachrichten in jeder Ecke zu vermuten. Und, man beachte, ich weiß durchaus – ich habe in all dem Durcheinander noch ein Riesenglück gehabt. Nicht jeder, der so überraschend und hinterhältig seinen Job entwunden bekommt, kann sich so umgehend einen neuen sichern. Selbst wenn der nicht einmal halb soviel Prestige hat – es ist ein Job. Aber auch wenn ein Leben so schnell eine neue Bahn nimmt, ändert das nichts an dem eisigen Schock, vollständig aus der ursprünglichen geworfen worden zu sein. Und nicht einmal durch etwas Großes; nicht einmal durch eine geplante und erhabene Verschwörung; nein, einfach durch das Zusammenwirken mehrerer – zweier Personen, denen mein Schicksal entweder völlig egal ist, oder die vielleicht sogar eine gewisse sadistische Freude daran empfinden, mir ihre Machtüberlegenheit zu zeigen.

Wobei das ein Sadismus ist, der mit der erotischen Freude an geschenktem und empfangenem Schmerz nicht das Geringste zu tun. Es ist etwas völlig Einseitiges, durch das auch keine tiefe, innige Verbindung zweier Menschen zementiert wird, sondern das Gegenteil. Auf einen bestehenden Graben wird triumphierend hingewiesen.

Unwillkürlich verwandelt mein Herz sich wieder einmal in einen kleinen Presslufthammer, der sein eigenes Gefängnis aufzubohren droht. „So, und jetzt zu Maibaum,“ sagt Deinar, und der erste Mauerdurchbruch scheint in vollem Gange zu sein.

„Wissen Sie, ich kann ja mit dem ganzen SM-Kram nichts anfangen,“ beginnt er, „und es geht mich auch überhaupt nichts an. Ich meine, klar – solange es um Artikel darüber geht, muss ich auf den Jugendschutz achten, wie bei allen erotischen Artikeln, und ich muss sehen, dass es nicht allzu insider-mäßig ist, damit alle Leser es verstehen können. Aber das ist etwas anderes. Privat dürfen Sie mir gerne auf die Finger hauen, wenn ich mich in irgendetwas einmische, was nur Sie allein betrifft. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich Ihnen sagen darf, vielleicht sogar sagen muss, was ich durch Zufall erfahren habe. Sie wissen vielleicht, dass Maibaum und Mondheim sich durch eine Art geheimen SM-Zirkel kennen, der hier seit etwa fünf Jahren existiert?“

Er schaut mich fragend an, aber ich kann nur den Kopf schütteln. Nein, das war mir nicht bekannt. Interessant aber immerhin, wie sehr Maibaum dem Thema verbunden ist – ohne das jemals erkennen zu lassen. Nicht, dass er das müsste – aber es erklärt immerhin meine totale Fehleinschätzung seiner Neigungen. Ich dachte, ich müsse ganz vorsichtig das Thema darauf bringen – dabei weiß der Typ garantiert zehnmal mehr über SM als ich und hat weit mehr Praxis. Ja, so kann man sich täuschen.

„Ich weiß auch nichts Genaues,“ fährt Deinar fort, „man legt da sehr viel Wert auf Geheimniskrämerei und nennt das Diskretion. Ein echtes Mantel-und-Degen-Spiel, und wenn Sie mich fragen, macht das einen Teil des Reizes aus. Ich persönlich finde ja, wenn man sich als SM’ler schon darüber beschwert, dass immer wieder Menschen diese Form der Erotik mit Kinderschänderei gleichsetzen, sollten gerade diejenigen, die gesellschaftlich recht gut dastehen, etwas offener mit dieser Neigung umgehen. Wie sollen andere, die davon keine Ahnung haben, etwas für normal halten, zu dem nicht einmal die begeisterten Anhänger stehen? Gerade das Versteckspiel verstärkt doch sämtliche Vorurteile, und wenn die in der besseren Position nicht dagegen angehen, wird sich nie etwas tun, was die Toleranz betrifft. Aber ich schweife ab.“

Ja, eine Abschweifung war es schon – aber eine, die ich nur voll unterschreiben kann. Was er mir da gerade erzählt hat, das ist genau der Grund, warum ich mich mit meiner SM-Faszination nicht verstecke. Wobei ich schon der Meinung bin, meine interne Festlegung auf die dominante Rolle und Details meines Liebeslebens, die gehen nun wirklich keinen etwas an. Aber dass mich das gesamte Gebiet interessiert, das darf jeder wissen. Womit über meine „gesellschaftliche“ Stellung nichts gesagt ist; wenn jedoch schon die, die es sich leichter leisten könnten, nichts tun, muss ja irgendjemand anderes anfangen.

„Jedenfalls, die Verbindung über diesen Zirkel war auch der Anstoß für ihr Vorstellungsgespräch hier. Sie sollten allerdings nicht glauben, dass Sie den Job hier diesem Kontakt zu verdanken haben. Mondheim tut seinen Brüdern im Geiste gerne einen Gefallen – aber er stellt nur Leute ein, von denen er wirklich überzeugt ist. Da reicht eine Empfehlung allein nicht.“

„Aber er kennt mich doch gar nicht,“ werfe ich ein. Deinar lächelt. „Oh, er verlässt sich da voll und ganz auf meine Einschätzung. Das nur nebenbei, damit Sie sich nicht selbst unterschätzen. Sie verdanken Maibaum allein den Auslöser, alles andere ist ihre eigene Leistung.“

Es tut gut, das zu hören. Obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob ich es glauben kann; mag sein, er will mich nur beruhigen. Eines steht jedoch fest: Wenn ich hier Erfolg haben will, muss ich mich höchstselbst bewähren; und gelingt das, sind alle Verdienste anderer am Anfang ohnehin Makulatur und Nebensache.

„Zurück zu unserem Zirkel. Man verbringt nicht nur viel Freizeit miteinander, man hilft sich auch gegenseitig geschäftlich. Wie Sie ja gesehen haben. Das geht durchaus überraschend weit an einigen Stellen. Was nun Sie betrifft, da kommen für Maibaum zwei Dinge zusammen; die beruflichen, und die privaten. Er hatte von der Geschäftsführung den Auftrag erhalten, sie irgendwie auf eine möglichst elegante und leise Art an die Luft zu setzen. Juristisch nicht ganz einfach – die Befristung in ihrem Vertrag ist nicht ganz so sicher, wie man Sie das glauben lässt. Nur, Sie wissen selbst, sich per Gericht einem Arbeitgeber aufdrängen, der das nicht will – daran hat kein Angestellter lange Freude. Von daher will ich Ihnen nicht einreden, Sie hätten sich wehren sollen; das ist schon die beste Lösung, einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Maibaum hat sich jedenfalls an Mondheim gewandt, was er machen soll. Er wollte nicht, dass Sie aus dem Magazin und damit aus seinem Leben verschwinden. Wie weit das geht, kann ich natürlich nicht beurteilen, aber er ist Ihnen wohl in irgendeiner Weise zugetan. Was ich jetzt sage, ist ein bisschen auch Spekulation; Mondheim hat natürlich keine Veranlassung gesehen, mir Einzelheiten zu offenbaren. Er hat Maibaum dann wohl, eigentlich eher scherzhaft, den Vorschlag gemacht, sie doch einfach privat zu „erobern“, wie er sich ausdrückte. Dann sei es ohnehin nicht mehr möglich, an demselben Arbeitsplatz zu bleiben, und so könne er einfach das Berufliche ins Private umtauschen. Nun ist Maibaum nicht unbedingt ein Naturtalent, was die Partnersuche angeht.“

Unwillkürlich muss ich grinsen. Nein, das ist er nun in der Tat nicht.

„Mondheim muss da auch schon einige Male eingegriffen haben. Bislang ohne großen Erfolg. Und diesmal, bei Ihnen, hat er Maibaum geraten, Sie einfach in eine ausweglose Situation zu bringen, damit Sie sich hilfesuchend an ihn wenden. Wer hat wohl größere Chancen, ein Frauenherz zu erobern, als der Retter in höchster Not. Deshalb lässt man Sie auch nicht gleich gehen, obwohl man Sie eigentlich schon loswerden will, und deshalb wird man Ihnen mit Sicherheit die letzten Tage in der Redaktion so schwer wie möglich machen. Ich kann Ihnen versichern, ich wusste davon nichts, bis Sie mich angerufen und um Vermittlung gebeten haben. Sonst hätte ich Sie gleich gewarnt. Erst als ich mit Mondheim über das Problem gesprochen habe, hat er mir dann ein wenig über die Hintergründe verraten.“

„Damit, mir das Leben zur Hölle zu machen, hat man längst begonnen,“ erwidere ich trocken. „Jeder Artikelvorschlag, der im Moment von mir kommt, wird scharf kritisiert. Und zwar nicht nur sachlich. Ich habe schon das Gefühl, es ist eigentlich völlig egal, was ich mache – es wird mir doch ein Strick daraus gedreht.“

Er nickt und seufzt.

Ja, es kommt hin, was Deinar mir gesagt hat. Auch wenn es erstens gewiss nicht die vollständige und zweitens nicht eine absolut nachvollziehbare Begründung liefert für das, wie Maibaum sich mir gegenüber verhält. Es ist vollständig genug, es zu verstehen; und eine bestimmte Unlogik ist lebensimmanent. Nur Geschichten dröseln alle Fäden komplett und logisch auf.

Das ist es also, was hinter dem Ganzen steckt. Maibaum will, wollte mich erobern, und hat aus der Not, mich an die frische Luft setzen zu müssen, versucht, eine Tugend zu machen. Nachdem ich dann nicht auf sein rettendes weißes Pferd gesprungen und mit ihm davon galoppiert bin, ist er jetzt schlicht sauer und triezt mich zum Teil noch wegen des ursprünglichen Plans, zum Teil aus Rache.

Nun denn, damit kann ich leben. Hoffe ich wenigstens. Zu wissen, dass einem in den nächsten Wochen die Hölle bevorsteht, macht das Überleben nicht weniger schmerzhaft, aber einfacher.

Mein umgekipptes Weltbild beginnt ganz langsam, sich wieder aufzurichten.

Eine Information brauche ich allerdings noch. „Sie wissen nicht zufälligerweise, ob Maibaum Top oder Sub ist, also dominant oder devot?“ Deinar sieht mich zweifelnd an. „Ich glaube nicht, dass ich viel mit solchen Begriffen anfangen kann. Wie gesagt, der gesamte Bereich sagt mir nichts. Und von Maibaums Vorlieben habe ich nicht die geringste Ahnung.“

Schade; eine vollständige Aufklärung wäre mir lieber gewesen. „Ich kann aber gerne Mondheim mal fragen,“ ergänzt Deinar.

Nein, also das will ich ihm denn nun doch nicht zumuten; so interessiert ich auch an diesem Wissen bin. Eigentlich spielt es auch überhaupt keine Rolle mehr. Denn die, die Rolle, für Maibaum in meinem Leben, die ist – zu Ende. Die kühle enttäuschte Ernüchterung, als ich das hinterhältige, kindische Spielchen noch einmal vor meinen Augen Revue passieren lasse, ist da verdammt heilsamer. Heilsamer in jedem Fall, als sämtliche ruhigen Überlegungen.

Der Meister ist entthront, noch bevor ich überhaupt richtig kapiert habe, dass er einer ist.

***

Irgendwie schleppe ich mich durch den Freitag und schaffe es dabei, Maibaum aus dem Weg zu gehen. Dass er stundenlang abwesend ist, hilft mir dabei. Nachdem ich zu den beiden fertigen Artikeln noch nichts weiter gehört habe, gehe ich einfach einmal davon aus, die sind dann in Ordnung. Dem abgehakt-Stempel hinterherlaufen muss ich ja wohl nicht.

Für das Wochenende habe ich mir vorgenommen, Bilanz zu ziehen aus der vergangenen Woche, die in meinem Leben das unterste zuoberst gekehrt hat und umgekehrt. Das Dumme ist nur, mir fällt überhaupt nichts ein. Ich fühle mich einfach schlaff und träge. Nicht angenehm träge; nicht wie nach einer großen, erfolgreichen Anstrengung. Eher wie gegen die erste Wand geschleudert von einem Sturm, von dem ich weiß, er wird mich bald wieder hier abholen und weiter durch die Lüfte schwingen.

Wie kann das gehen, dass auf einmal, so plötzlich, alles verändert ist? Eine Kleinigkeit nur, der Besuch einer SM-Party, und ich erkenne nichts mehr wieder von dem, was um mich herum ist, als hätte ich dabei ein unsichtbares Tor in eine andere Welt durchschritten. Was ich zu dem Zeitpunkt, als es geschah, weder bemerkt, noch für wichtig genommen habe. Wie unsicher doch unser Leben ist, und wie schnell kleine, große Veränderungen die Zukunft ganz anders aussehen lassen, als man dies vermutet. Vielleicht ist es so, dass man wirklich für sich immer nur selbst der einzige Fixpunkt ist. Und da man seine eigenen Schwächen am besten kennt, weiß man gleich auch, wie wenig stark und haltbar und dauerhaft dieser Fixpunkt ist.

So weit komme ich schnell, in meiner nicht ganz von Selbstmitleid ungetrübten Nachlese, und dann ist Schluss. Mir fällt nichts ein, ich finde keinen Anfang, kein Ende, keinen roten Faden. Die Regeln dieser anderen Welt nach Freitag Abend sind mir unbekannt. Und auch wenn ich die Hoffnung habe, sie lernen zu können – momentan ist mir keine Analyse möglich.

Es wäre ja auch ein bisschen viel verlangt, dass ein einzelner Mensch, noch dazu einer, der noch ein wenig betäubt ist durch das, was ihm zustieß, mal eben so mit links an einem Wochenende die großen Rätsel des Lebens löst.

So puntere ich stattdessen in der Wohnung umher, kriege nichts Ganzes und nichts Halbes zustande, fange etwas an, gebe es wieder auf, starre Löcher in die Luft, nutze den Programmwechselknopf beim Fernseher, und fühle mich insgesamt wie durch den Wolf gedreht.


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