Mondheim der Beschützer

8. Juni 2013

Mondheims Oberkörper kommt ruckartig nach vorne. „Darf ich Sie daran erinnern, Herr Lange, die eigentliche Versammlung ist beendet. Vielleicht haben Sie die Güte, Frau Senreis nun wieder so anzusprechen, wie es außerhalb korrekt ist.“

Aha – die allgemeine Duzerei ist also auch Teil des Zeremoniells. Schön, wie diese Umgangsformen, die oft genug in ihrer Alltäglichkeit gar nicht mehr beachtet werden, hier neue Bedeutung gewinnen. Und ich war so sehr gefangen in der Aufregung, ich habe es nicht einmal bemerkt.

„Kommen wir zur Sache,“ beendet Jakob die Auseinandersetzung, bevor es eine werden kann. „Frau Senreis, ich gehe sicher recht in der Annahme, dass Sie überhaupt noch nicht wissen, was Ihnen bevorsteht?“ „Wer’s glaubt,“ wirft Lange ein, aber ein strafender Blick von Jakob bringt ihn zum Schweigen.

„Mit der Terminologie von SM sind Sie bestens vertraut; dazu muss ich also nicht viel erklären. Sie wissen auch, dass jedes neue Mitglied durch jemanden vorgeschlagen wird, der selbst bereits längere Zeit im Zirkel ist. Der Vorschlagende übernimmt aber nicht nur die Bürgschaft für das neue Mitglied, er wird eine ganze Weile auch für die Einführung sorgen und eine Art Mentor sein. Das hat in zwei Richtungen Konsequenzen.“ Jakob holt tief Luft. „Aber zu diesen Einzelheiten komme ich später, bei einem unserer nächsten Treffen. Bei der Aufnahme wird Mondheim stets an Ihrer Seite sein, und er ist auch derjenige, der bei dem Ritual die wichtigste Rolle spielt. Die spezielle Verbundenheit zwischen Ihnen und ihm wird jedoch mit der Initialisierung nicht beendet sein, sondern sie wird sich fortsetzen. Solange Sie beide das wollen. Es gibt viele in unserem Kreis, die noch immer füreinander das sind, was sie ganz am Anfang waren. Bei anderen endet die Verbindung rasch. Wie gesagt, das hängt ganz von Ihnen beiden ab. Es gibt nur eine Regel – vor dem Ablauf von drei Monaten ist es Ihnen nicht möglich, sich von Mondheim zu lösen. Das hat einen ganz einfachen Grund. Es gibt viele Dinge, die Sie bei uns lernen müssen; theoretische ebenso wie praktische. Dafür brauchen Sie einen Begleiter, und das wird Mondheim sein. Wenn Ihnen das nicht lieb ist, müssen Sie es gleich sagen.“

„Natürlich ist mir das recht; sehr recht sogar,“ bringe ich hervor.

„Oh, ich dachte, Deinar wäre Ihnen lieber gewesen als Partner,“ wirft Lange ein.

Der Typ geht mir langsam auf die Nerven, so furchtbar sympathisch er mir auch vorher war. „Wenn Deinar Ihnen so am Herzen liegt, warum nehmen Sie ihn sich dann nicht selbst zur Brust und führen ihn ein?“ gifte ich.

„In der Tat,“ unterstützt mich Mondheim, „warum eigentlich nicht? Ich wollte ohnehin nachher noch darum bitten, mich von der Verpflichtung im Hinblick auf Deinar zu entbinden – das würde sich gut passen, wenn Sie in diese Pflicht eintreten.“

Kleine Messerstiche in meiner Kehle machen mir das Atmen schwer, und ich bin nicht ganz sicher, ist es Schock oder Triumph. Was läuft da? Wieso will Mondheim nicht mehr für Deinar zuständig sein? Es war doch geplant, dass er uns beide betreut.

„Das dürfte kein Problem sein,“ mischt sich Jakob vor. „Deinar ist von mehreren vorgeschlagen worden und etlichen aus unserem Kreis bekannt. Wie wäre es, Lange, wollen Sie das übernehmen?“

Lange ist rot geworden. Dass ihm seine kleinen Scherze so grausam um die Ohren fliegen, damit hat er wohl nicht gerechnet. „Meinetwegen.“ Jakob schüttelt den Kopf. „Nein, so nicht. Sie müssen es schon ernsthaft wollen und sich Ihrer Verantwortung dabei bewusst sein.“ Lange hebt die Hände. „Ist ja schon gut. Ja, ich mache es.“ „Sie sprechen dann selbst mit Deinar?“ Lange nickt.

Jakob seufzt. „Gut, dann haben wir das geregelt. Frau Senreis, sind Sie sich im Klaren darüber, welche Rolle Sie als Mondheims Schutzbefohlene zu übernehmen haben?“

Es fühlt sich an, als kriegte ich keine Luft. Darüber habe ich noch keine Sekunde lang nachgedacht. Rein rational gesehen kann darüber allerdings kein Zweifel bestehen, welche Rolle ich bei ihm einzunehmen habe. Ich zwinge mich zu zwei tiefen Atemzügen, um meine Stimme in den Griff zu bekommen, richte mich auf und bemerke dabei, seine Hand ist plötzlich verschwunden. Es ist schwer jemanden anzusehen, der neben einem sitzt und dann noch leicht erhöht; aber es ist möglich. Seine Augen fangen mich sofort ein. „Ja, darüber bin ich mir im Klaren.“

„Und Sie sind bereit, diese Rolle zu übernehmen?“ Jakobs Stimme scheint auf einmal furchtbar weit weg zu sein. Ich registriere nur Mondheims Augen, so blau, so kalt, dachte ich einmal, und doch mit soviel Feuer darin. „Ich bin bereit.“ Es ist ein Versprechen, das meine Haut prickeln lässt und mir gleichzeitig Übelkeit einträgt. Nicht Jakob gebe ich das Versprechen, nicht dem Zirkel, sondern Mondheim allein.

Weiß ich, was ich tue? Wie kann ich einfach dasitzen und jemandem so mir nichts, dir nichts versprechen, seine Sub zu sein, für eine Zeremonie, die mir jetzt schon Furcht einjagt, und danach noch für mindestens drei Monate? Jemandem, den ich kaum kenne, der für mich die ganze Zeit eine Randfigur war? Wie kann ich das tun?

Nein, er war ja keine Randfigur; er war die alles entscheidende Figur im Mittelpunkt. Nur hat bisher meine Orientierung versagt. Er, nicht Deinar ist es, der mir den Job gegeben hat, der bei Maibaum intervenierte zu meinen Gunsten. Er ist es, der mich ganz langsam, leise, still in seinen Kreis hineingezogen hat. Nicht Deinar.

Ich muss blind gewesen sein die ganze Zeit. Deinars Stärke, die mich so sehr beeindruckt hat, an die ich mich klammerte, es war nur zum Teil seine eigene. Zum größten Teil war es – Mondheims.

In mir schreit etwas auf, und ich weiß nicht, ist es Bedauern darüber, dass es Mondheim ist, nicht Deinar – oder ist es der Schmerz, nicht vorher gesehen zu haben, wer tatsächlich die Fäden in der Hand hält.

Jedes Mal, wenn ich denke, etwas Ordnung und Übersicht hineingebracht zu haben in das, was ich bin, was ich empfinde, wo ich stehe, setzt das Rad sich erneut schwungvoll in Bewegung und schleudert mich an einer ganz anderen Stelle wieder hinaus als der, von der ich eingestiegen bin. Wie ein Riesenrad mit Zufallsgenerator im Türverschluss. Mir ist schlecht.

Trotzdem möchte ich im Augenblick um nichts in der Welt woanders sein als genau dort, wo ich bin.

Für einige atemlose Augenblicke sehen wir uns an, Mondheim und ich. Der erfahrene Dom mit mehr Macht, als ich ahnen kann, und die naive Sub, die eigentlich keine ist, in jedem Fall jedoch Anfängerin und völlig neu in dem Zauberland, in das man sie so plötzlich versetzt hat.

Noch einmal meldet sich Jakob zu Wort. „Es gibt noch einiges an Details zu besprechen, aber ich will Sie nicht gleich überlasten. Ich denke, es ist auch so schon sehr viel, was Sie verkraften müssen.“ Sanft klingt seine Stimme, und so, als wisse er genau, was unter der Oberfläche meiner mit Hilfe von sehr viel Selbstbeherrschung unbewegten Gesichtszüge vor sich geht.

„Wenn Sie wollen, können Sie gerne noch bleiben für ein wenig ungezwungene Unterhaltung mit den anderen Mitgliedern,“ schließt er.

„Ich glaube, ich bringe Anne besser nach Hause,“ widerspricht Mondheim.

So schnell beginnt es also, dass ich ihm gehöre; wenigstens in diesem Kontext. Immerhin, er hat es genau getroffen – ich will nach Hause. Keine weiteren Eindrücke mehr dieser seltsamen Versammlung, keine Gespräche mehr, die ohnehin alle nur belanglos sein können im Vergleich zu dem, was ich bereits erlebt habe.

Endlich kehrt die Hand auf meine Schulter zurück, wenn auch nur kurz. „Lass uns gehen. Du musst unten noch einen Moment warten – ich will mich umziehen. Aber ich beeile mich.“

Von der allgemeinen Verabschiedung bekomme ich nicht viel mit. Wortfetzen und Lachen begleiten uns aus der mittlerweile geöffneten Tür. Der Türsteher ist verschwunden. Der Teppich auf den Stufen – komisch, den hatte ich vorhin gar nicht wahrgenommen – dämpft das Geräusch unserer Schritte, und so kann ich sein Atmen hören, ebenso wie meines. Ich komme mir vor wie ein Kindergartenkind auf seinem ersten Ausflug mit Erwachsenen.

Mondheim verschwindet hinter derselben Tür wie vorhin Lange. Vorhin – vor einem ganzen Zeitalter. Er ist rascher zurück als Lange, im gewohnten eisgrauen Sommeranzug aus diesem wunderbaren glänzenden Stoff, den ich so gerne ertasten möchte, mit weißem Hemd und dunkelblauer Krawatte, ganz klein darauf ein Wappen, das ich nicht genau erkennen kann.

Er ist völlig verwandelt, auf einmal wieder die Erscheinung, die ich kenne. Aber es hat sich soviel verändert – es wird nie mehr dasselbe sein, ihm zu begegnen.

Er öffnet mir die Autotür, wartet, bis ich eingestiegen bin, schließt sie leise, geht hinter dem Auto entlang zur Fahrerseite. Wir sind schon auf der Straße – das Tor steht offen -, als er fragt: „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Das vertraute du ist also zusammen mit der Domkleidung zurückgeblieben.

„Ich denke schon, ja.“ Kratzig, heiser kommen die Worte heraus. „Sie kommen sich wahrscheinlich ziemlich überfahren vor.“ Ich muss lächeln. „Erstaunlicherweise nein; überhaupt nicht.“

Tausend Fragen liegen mir auf der Zunge, doch ich stelle nicht eine.

„Haben Sie am Wochenende Zeit?“ fragt dafür er. „Es gibt einiges, das ich noch mit Ihnen bereden möchte.“ „Selbstverständlich.“ „Gut – am Samstag, gegen vier, wenn Sie es einrichten können?“ „Das passt hervorragend. „Wo?“ „Bei mir zu Hause.“

Ein unangenehmer Hauch weht mir ins Gesicht. Sein Haus – seine Frau. Die elegante Kälte, der Zwang der Konventionen, an die sie sich selbst nicht hält. Aber was soll das – es ist nun einmal, wie es ist, und in ein Büro passt dieses Gespräch noch weniger.

Viel zu schnell sind wir bei dem Haus, in dem ich wohne; obwohl ich überhaupt nicht weiß, was ich sagen soll und er nach dem kurzen Wortwechsel ebenfalls schweigt, ist es eine angenehme Fahrt.

Er steigt aus, und etwas sagt mir, ich solle sitzen bleiben, bis er mir wieder die Tür öffnet. Er bringt mich noch zur Haustür, verabschiedet sich mit einem formvollendeten Handkuss, und geht.

Ich schaffe es noch ins Treppenhaus, aber hier muss ich mich erst einmal hinsetzen. Schmutzige Stufen gegen hellen Stoff hin oder her. Irgendwann, lange später, schleppe ich mich die Treppe hoch. Trotz meiner Erschöpfung kann ich die halbe Nacht nicht schlafen.

***

Am nächsten Morgen brauche ich nach dem Weckerklingeln eine ganze Zeit, bis ich weiß, wo ich bin. Ich habe geträumt von Szenen in Schlössern und Burgen, mit vielen Menschen, kostümiert, ringsherum Kerzen, leise Musik. Und dann war da ein Gesicht. Seines.

Verdammt, es wird Zeit, wieder in den Alltag einzutauchen.

Im Büro kommt es mir vor, als sei ein ganz anderer Mensch gestern dort weggegangen als der, der es jetzt wieder betritt.

Zum Glück wartet genug Arbeit auf mich, dass ich nicht ins Grübeln kommen kann.

Ich hoffe inständig, dass er nicht vorbeikommt, merke gegen fünf, wie enttäuscht ich über das Eintreffen meiner Hoffnung bin, und dann kommt er doch noch. „Wir müssen beraten, was wir mit Siebert machen,“ verkündet er, als sei zwischen gestern und heute gar nichts passiert.

„Wieso?“ frage ich verwundert. „Ich meine, die eine Woche wirft uns nicht zurück – der Rest steht ja auch noch längst nicht vollständig.“

Er schüttelt den Kopf. „Es ist ja nicht nur diese eine Woche. Siebert hatte zwei Aufgaben für Sie zu erledigen. Der einen hat er sich entzogen, die andere verschlampt er. Ich halte es für besser, wenn ich Ihnen gleich einen anderen Programmierer beiordne. Wenn Sie einverstanden sind, hole ich Jasmund, der soll das übernehmen.“

Warum nicht? Er kennt seine Leute besser als ich.

Jasmund ist mir nicht angenehmer als Siebert, allerdings spielt er sich im Gegensatz zu diesem nicht auf. Was jedoch auch an Mondheims Anwesenheit liegen kann; wir werden sehen, was passiert, wenn er mich das nächste Mal ohne Zuschauer aufsucht. Ich zeige und erkläre ihm das Layout, lege ihm das Textkonzept und die Flussdiagramme vor, die ich für Siebert gemacht habe. Er nimmt alles an sich. „Das müsste schnell zu machen sein,“ beschließt er. „Vielleicht schon bis zum nächsten Montag.“

„Das heißt,“ wendet er sich nun an Mondheim, „solange sonst nichts anfällt?“ „Sie sind ab sofort von allen anderen Arbeiten freigestellt, bis der Kontaktmarkt steht,“ ist die Antwort. „Was wir mit den anderen Programmierungen machen, muss noch entschieden werden – aber das hier hat für den Moment absoluten Vorrang.“

„Ich setze mich gleich dran,“ verspricht Jasmund. „Geben Sie sich Mühe,“ mahnt Mondheim. „Und wenn etwas ist, wenden Sie sich an Frau Senreis.“ Damit ist Jasmund verabschiedet.

Mondheim macht es sich auf dem Schreibtisch bequem, und ich sitze dahinter wie ein Tier im Käfig. „Das mit der Feier zur Premiere finde ich hervorragend,“ beginnt er. „nur, Sie wissen, das müssen wir jetzt planen. Zwei Monate mindestens müssen Sie rechnen, um so etwas auf die Beine zu stellen.“ Mir graut jetzt schon vor der Arbeit, die damit verbunden ist. „Und nicht dass Sie glauben,“ fährt er fort, „Sie müssten das alles allein machen. Es gibt eine kleine Firma, mit der arbeite ich immer zusammen bei solchen Festlichkeiten. Privat, geschäftlich – und was den Zirkel betrifft.“ Ein prüfender Blick trifft mich. Will er meine Reaktion testen? Ich habe keine. Äußerlich wenigstens nicht. „Ich leite das gleich in die Wege, und die werden Sie dann morgen anrufen. Sie stecken den Rahmen ab, den Rest machen die. Nicht dass Sie sich nachher mit Dingen verzetteln, die jeder andere ebenso gut erledigen kann. Ich brauche Sie für das, was die anderen nicht können.“

Er steht auf, und ich bete, fürchte schon, das war es für heute. Statt dessen bewegt er sich lediglich um den Schreibtisch herum, auf dem neben meinen Sachen noch immer seine liegen, ein Kuli, ein Taschenbuch (ein Sachbuch über Ökonomie, wie ich gleich heimlich herausgefunden habe), eine kaputte Armbanduhr.

Sein Zeigefinder streicht über meinen Handrücken. „Wie geht es dir?“ „Gut, denke ich – ich weiß nur nicht, wie ich mich benehmen soll.“ Meine Antwort löst ein lautes Lachen aus. „Ganz normal, so wie immer – oder so, wie dir zumute ist. Was auch immer du tust – du musst mir eines versprechen: Du darfst dich nicht verstellen.“

Ich strecke meine Hände aus, und er beugt sich herab, nimmt mich in die Arme. Das ist keine brüderliche Umarmung und auch nicht die eines Kuschelbärs mit großer Schnauze, der ab und zu mit den Tatzen zuschlägt und eigentlich gar nicht weiß, was er will und was er tut.

Sein Körper ist wie eine leichte, angenehme Wolke um mich herum und gleichzeitig solide, fest. Und dann ist da noch etwas, doch darüber will ich jetzt nicht sprechen.

Es ist eine zutiefst unbequeme Haltung, aber es ist nicht meine eigene Bequemlichkeit, die mich nach kurzer Zeit zurückweichen lässt. Er kniet sich neben mich, sieht mich an. „Ist es falsch, wenn ich das will?“ frage ich. „Wenn du es willst, ist es nicht falsch. Und mir kommt es sehr entgegen – wenn du weißt, was ich meine. Das gehört dazu, dass man sich umarmt. Vielleicht ist es verkehrt, jetzt so unvermittelt darüber zu sprechen, aber ich suche keine Bilderbuchsub, die sich selbst in ihrem Meister finden will. Die versucht, jeden Wunsch vorauszuahnen und darin doch nur ihre eigene Befriedigung anstrebt oder einem Bild entsprechen will.“ Seine Finger malen Muster auf die Oberschenkel meiner Sommerhosen, und mir scheint so, als müsse ich sie später auf meiner Haut darunter wiederfinden. „Es wird alles nicht einfach werden. Für uns beide nicht. Deshalb möchte ich, dass du genauso bist, wie du bist, denn das ist unsere einzige Chance. Versuche nicht, jemand anderes zu sein. Wenn du etwas möchtest, dann möchtest du es. Und das Mindeste, was ich dir versprechen kann ist, dass wir darüber reden werden. Was auch immer es ist.“

Schon wieder möchte ich soviel fragen und kann es nicht. Ob das zur Dauereinrichtung werden wird?

Er steht auf, kramt in seiner Jackettasche, zieht einen kleinen, zerknüllten Zettel daraus hervor. „Das ist meine Handynummer. Die von meinem privaten Handy. Darüber bin ich immer erreichbar, und wenn ich sage immer, dann meine ich immer. Egal, ob es mitten in der Nacht oder mitten in einer Besprechung ist.“ „Ich glaube nicht …“ wehre ich ab, doch er unterbricht mich. „Die Dinge fallen nun einmal an, wenn sie anfallen, und manches hat nicht Zeit, bis der Terminplan eine Lücke hat. Wenn du die Nummer brauchst, dann wähle sie auch. Keine Angst – sie ist nur wenigen Menschen bekannt. Wenn es klingelt, weiß ich schon, dass wahrscheinlich du es bist, und ich weiß dann auch, es ist etwas Wichtiges.“

Ich nehme den Zettel, verstaue ihn sorgfältig hinter Plastik in meinem Geldbeutel. Auch wenn ich mir jetzt fest vornehme, diese Nummer nicht zu benutzen – wenn er sie mir gibt, wird er seine Gründe dafür haben.

Seine Hände landen in den Hosentaschen, aber trotzdem sieht er nach Aufbruch aus. „Ich muss wieder los. Leider, muss ich sagen. Ein Abend mit dir wäre mir weit angenehmer als der mit Lahning, der mir bevorsteht. Kann ich noch etwas für dich tun?“

„An mich denken,“ entgegne ich, noch bevor ich mich bremsen kann. Er lächelt. „Das musst du mir nicht extra auftragen – das ist in jedem Fall unvermeidlich.“

„Alles Gute für die Besprechung,“ sage ich. „Sind die Probleme mit Lahning eigentlich gelöst?“ Er zuckt die Achseln. „Weitgehend. Weißt du, ich kann den Kerl nicht leiden, aber ich brauche ihn nun mal.“ Dann grinst er. „Zum Glück braucht er mich genauso wie ich ihn – und, er weiß das. Wird schon klappen.“

Schon ist er zwei Schritte in Richtung Tür gegangen, da dreht er sich noch einmal um. „Ich rufe dich noch an, heute Abend. Gegen zehn, wenn das nicht zu spät ist?“

„Ich freue mich darauf,“ antworte ich, und dann sitze ich allein in dem Zimmer, das seines ist, ebenso wie meines, mit klopfendem Herzen und Gedanken, die sich nicht fassen lassen.

***

Erst als Mondheim längst weg ist fällt mir ein, ich habe ihm meine Nummer gar nicht gegeben. Aber wenn er so selbstverständlich sagt, er ruft mich an, dann hat er sie – sonst hätte er mich danach befragt.

Kaum habe ich mühsam meine Konzentration wiedergefunden, klingelt das Telefon. Wie auch immer Mondheim dafür gesorgt hat – in den ersten Tagen fürchtete ich ständig, jeder Anrufer wolle in Wirklichkeit ihn an den Apparat haben, aber inzwischen weiß ich, die wollen wirklich alle mich. Wahrscheinlich liegt das jedoch eher an der Telefonzentrale als an ihm.

Es ist Deinar. „Ich muss dich sprechen.“ Es klingt eher nach einer Drohung als nach einer Einladung. Aber, wenn auch kurz, wir waren einmal beinahe Freunde, und wenn etwas ist, wenn er Schwierigkeiten hat, kann ich ihm vielleicht ein wenig von dem zurückgeben, was er mir in einer schwierigen Lage so freizügig geschenkt hat. „Sicher, kein Problem. Wann?“

„Sofort.“ Das gefällt mir nicht. Wir haben nicht genug miteinander zu tun für solche überfallartigen Gespräche, wie ich sie mir von Martina, Evelyn und Katrin natürlich gefallen lasse; aber auch bei denen nur zähneknirschend. Ich hasse es, wenn man mich derart unter Druck setzt. Aber was soll ich tun?

„In Ordnung. Ich bin noch länger im Büro, du kannst also gleich vorbeikommen.“ Er lacht nur, doch es ist ein bitteres Lachen. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, ich rede mit dir in diesem Raum?“ Wieso nicht? In seinem Büro haben wir uns oft genug miteinander unterhalten. In Gedanken gehe ich schnell die mir immer noch nicht ganz vertraute Umgebung durch. Gibt es hier irgendetwas, wo man sich treffen und in Ruhe reden kann? Vielleicht im Nebenraum von dem einen Restaurant, das hat einen Nebenraum, in dem es nur etwas zu trinken gibt. Nicht nur Alkohol, auch Tee und Kaffee rund um die Uhr. „Ich wüsste nicht, wieso nicht. Aber wenn es dir lieber ist – der Prinz von Hohensachsen ist gleich in der Nähe. Im Nebenraum gibt’s Kaffee. Kennst du das?“ „Ich kenne es.“ „Wann wirst du da sein?“ „In einer halben Stunde.“ Schon hat er aufgelegt.

Ich sehe auf die Uhr. Zehn nach sechs ist es; also um 20 vor sieben. Es passt mir nicht, es passt mir überhaupt nicht, und ich habe auch kein gutes Gefühl. Noch etwas tun hat wenig Sinn; ich packe mir nur zwei Texte auf Diskette, an denen ich noch etwas tun muss. Für den Fall, dass es länger dauern sollte, werde ich lieber gleich nach Hause fahren und das an meinem eigenen Computer erledigen. Spätestens ab neun werde ich ohnehin ein wandelndes Nervenzittern sein, da bin ich dort besser aufgehoben.

Um halb sitze ich an einem der kleinen Tische, mit einem Kräutertee. Für Kaffee bin ich zu durcheinander. Deinar kommt um viertel vor sieben. Er sieht müde aus, setzt sich wortlos. Einen Moment lang packt mich der Schrecken, es sei etwas passiert. Doch der legt sich schon bei seinen ersten Worten. „Wie machst du das nur, Anne? So von einem Mann zum anderen zu wandern? Erst Maibaum, dann ich, und nun Mondheim. Wer kommt als nächstes?“

Aha – darum geht es also. Der Herr gedenkt, eifersüchtig zu sein, und hält in seinem eigenen wütenden Schmerz auch Beleidigungen für eine rechtmäßige Verteidigung. Meine Erwiderung ist kühl. „Vielleicht sagst du erst einmal, weshalb du mich sprechen wolltest? Wenn es nur ist, um mich zu beschimpfen, dann gehe ich gleich wieder.“

Es ist, als hätte ich eine Lawine losgetreten. „Als ob du das nicht wüsstest! Du kommst an bei mir, spielst das arme, unschuldige, unglückliche Ding, ich helfe dir, wo ich nur kann, und was ist der Dank? Du schnappst mir den interessantesten Job weg, den Mondheim in der letzten Zeit zu vergeben hatte, du greifst dir den ersten Termin für deinen Beitritt zum Zirkel, obwohl ich ja nun weiß Gott ältere Rechte habe, und schließlich schnappst du dir noch Mondheim persönlich, der mich deinetwegen mit einem Fingerschnippen ins Abseits befördert. Hast du dir das so gedacht, ja? Hast du mich nur benutzt, um Zutritt zu besseren Kreisen zu erhalten, aus denen du mich dann sofort verdrängst, sobald du es geschafft hast?“

Eine Antwort liegt mir auf der Zunge – er soll sich doch an Mondheim wenden. Schließlich ist der es, der die ganzen Sachen gemacht hat, die Deinar anscheinend so furchtbar ärgern. Aber erstens werde ich nicht kneifen, und zweitens hat das Ganze weit mehr mit mir zu tun, als dass ich das könnte, selbst wenn ich es wollte.


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