Freundinnen

14. Dezember 2012

Ich bin ja gespannt, was bei dem Gespräch zwischen Maibaum und Mondheim herauskommt. Irgendwie klingen die Namen ähnlich, und da ich mir nicht vorstellen kann, dass Philipp Freunde hat, die weniger steiflich sind als er, ist Mondheim bestimmt auch so ein Nussknacker mit Manageruniform, der zum Lächeln die Hand vor den Mund hält. Wie soll der ihn davon überzeugen, mich sofort gehen zu lassen? In den letzten drei Tagen ging das Spielchen beim Magazin immer hin und her; entweder steckt da gar kein Sinn drin. Dann kann auch ein freundschaftliches Gespräch aus dem Zickzack keine gerade Linie machen. Oder es ist irgendwo in dem Gezackere etwas verborgen, was ich bislang noch nicht entdeckt habe. Nicht, dass eine logische Begründung für soviel konträren Blödsinn leicht nachzuvollziehen sein kann.

Ach, was weiß ich – Mondheim soll es einfach probieren, und ich sitze da in der Wartezelle und harre geduldig meiner Verurteilung.

Schade, dass ich bei dem Gespräch nicht Mäuschen spielen kann. Oder bei dem anderen, was doch garantiert heute Abend noch Phillip und Meisig miteinander führen. Meisig, Maibaum, Mondheim – momentan scheine ich es irgendwie mit dem Anfangsbuchstaben „M“ zu haben. Kann man nur hoffen, dass ich mit Nummer 3 mehr Glück habe als mit den anderen beiden.

***

Das Telefonat mit Deinar hat wenigstens einigermaßen mein inneres Gleichgewicht wieder hergestellt. Es reicht schon, dass er die Lage sieht, in der ich mich befinde, und nicht wie Meisig und Philipp den Täter, sie selbst, zum unschuldigen Opfer verdreht.

Dass jemand sieht, was im eigenen Leben vorgeht, es ist so ungeheuer wichtig. Dass man ernst genommen wird; als Mensch. Als Person. Als vollwertige Person.

Das hat nichts damit zu tun, dass jemand die ganzen kleinen Eitelkeiten und Lügen glaubt, mit denen man das eigene Bild konstant aufpoliert. Die kennt man selbst nur zu gut; und wenn jemand da erkennen lässt, er lässt sich nicht täuschen durch den Anschein – ja, das ist sogar noch viel besser. Dadurch zeigt der andere nämlich, er hat mich wirklich wahrgenommen. So wie ich bin. Er durchschaut meine Hochglanzpolitur, aber er durchschaut auch Intrigen der anderen, die mich als Abschaum dastehen lassen und als Monster.

Selten, solche Menschen. Deinar scheint einer von ihnen zu sein. Ich hoffe, mein erster Eindruck täuscht mich nicht. Was für eine grenzenlose Erleichterung, ihm zu begegnen. Es bedeutet, Unterstützung erhalten in dem oft genug unfairen Kampf, den der Alltag an so vielen Stellen bietet, und die Verschönerungskünste unnötig machen, an die wir gewohnt sind – das eine ist so erfrischend wie das andere.

Zum Kern meiner selbst kann ein solcher Mensch vorstoßen; und es mir damit möglich machen, eben jenen Kern zu zeigen, zu leben. Ungeschminkt, unverfälscht.

Ob ich wohl für andere dasselbe tun kann? Bestimmt sorge ich, bewusst, unbewusst, oft genug für die Notwendigkeit, mir gegenüber die Maske aufzubehalten. Bestimmt habe ich schon oft nicht gesehen, wo man Fußball mit der Stimmung, der Karriere, dem Selbstbewusstsein eines Kollegen gespielt hat. Es wird Zeit, dass ich mir an diesem Ziel ein Beispiel nehme, statt den kaltschnäuzigen Dunkelmännern hinterher zu laufen, die so blödsinnig faszinierend sind.

Von weitem. Je mehr sie ins eigene Leben vorstoßen, desto ekelhafter werden sie. Die Faszination wächst dummerweise allerdings wieder mit der Entfernung. Deshalb ist das Spielchen ja so endlos. Da ist Faszination, ich laufe hin. In der Nähe verschwindet sie, entsetzt flüchte ich. Durch die zunehmende Entfernung entsteht wieder Faszination, die mich heranzieht … Und so weiter. Ein nervenzerfetzender, hirnrissiger Kreislauf, dem ich mich entziehen muss. Endgültig. Ab in den Abfall mit Philipp – oder vielmehr mit dem Bild von ihm in meinem Kopf. Ansonsten darf er gerne bleiben, so lange er mich in Ruhe lässt.

Aber noch für etwas anderes wird es Zeit: Wenigstens ein paar der Leute, mit denen ich öfter zu tun habe, über die aktuelle Entwicklung informieren.

Nicht meine Eltern; die kommen erst am Schluss. Wenn der Wechsel gut überstanden ist, werde ich ihnen beiläufig das und nur das berichten. Sonst machen die sich nur unnötig Sorgen. Aber Martina, Katrin, Jürgen, Evelyn – wenigstens denen sollte ich langsam erzählen, was wirklich läuft. Nicht nur, weil ich wild auf ihr Mitgefühl bin; sondern auch, um dem säuerlichen Lächeln zu entgehen, das mir droht, falls sie später und womöglich woanders davon erfahren. Unter Freunden gehört es sich nun einmal, dass man wichtige Dinge miteinander teilt – ob man will oder nicht.

Wobei – eigentlich würde ich allein Evelyn als echte Freundin bezeichnen. Wir kennen uns schon ewig; und wir haben viele Jahre sämtliche Geschehnisse, Entwicklungssprünge, Verliebtheiten, neue Erkenntnisse, Weltzweifel und Wechselphilosophien miteinander geteilt. Das verbindet; auch wenn heute alles viel oberflächlicher ist. Früher schien der Sinn der Freundschaften darin zu liegen, einander nahe zu kommen. Bis zum eigenen Grund und dem des anderen vorzustoßen. Inzwischen habe ich wie alle anderen Freunde, um nicht immer allein sein zu müssen.

Statt über die Umwelt diskutiert man über Umweltpolitik. Statt des genüsslichen Analysierens und Sezierens jeder Lebenszuckung einer beginnenden oder endenden Beziehung gibt es jede Menge wer-mit-wem-Klatsch. Und Geld statt Sinn des Lebens ist nun das wichtigste Thema. Na ja, nicht direkt Geld an sich. Aber Urlaub, Auto, Gehalt. Die neue Wohnzimmereinrichtung. Aktienkurse. Die allgemeine Teuerung.

So, als werde das Leben, wenn man älter wird, auf Äußerlichkeiten reduziert.

Kein Wunder; in der Analyse der inneren Entwicklungen stecken mit den Jahren ja auch so viele Giftpfeile, dass man gelernt hat, die Weichteile gut zu schützen und zu verbergen.

Bei Katrin und Jürgen ist das etwas anderes; seit sie ihre Zwillinge haben, die jetzt mit anderthalb gerade den aufrechten Gang entdecken, bestreiten die in der Regel gut 80 Prozent jeder Unterhaltung. Immerhin zukunftsbezogen, dieses Thema. Aber traurigerweise überschätzen Eltern konstant absolut das Interesse der Umwelt an ihrem Nachwuchs. Kinder als Menschen, das ist etwas, das mich sehr wohl hinter dem Ofen hervorlocken kann. Aber Kinder als Institution finde ich grässlich. Und immer, wenn ich sehe, wie viele Dinge Katrin und Jürgen einfach nicht mehr machen – zum Teil, weil es nicht mehr geht, da für jeden Pups ein Babysitter her muss, der Geld kostet, zum Teil, weil ihnen Lust und Energie dafür fehlen -, dann schaudert es mich. Gewaltig. Ich glaube nicht, dass ich Kinder haben will. Zumindest nicht so schnell.

Aber wer redet eigentlich von Kindern?

Na, Katrin natürlich, als ich sie kurz darauf am Telefon habe. Völlig im Stress, weil die Zwillinge wieder nicht schlafen wollen. Das Telefon hat sie gerettet; nun muss Jürgen sein Glück bei den beiden Schreihälsen versuchen. Trotzdem kommt Katrin von ihnen nicht los. Jeder Schritt, jedes Lächeln, die drei neuen Wörter von heute, das Chaos in der Küche mit der verschütteten Milch, der umgeworfene Bauklotzturm muss betrachtet, gewendet und erneut betrachtet werden im Hinblick auf deutliche Intelligenz-, mögliche Lebensfolgen und ganz allgemein Bedeutung für das Weltgeschehen. So geht es endlos. Ich komme gar nicht dazu zu sagen, was ich loswerden will. Erst gegen Ende des Gesprächs, als ich schon merke, nun zieht es sie mächtig wieder zurück zu den beiden Ungeheuern, denen sie doch vorhin noch so froh war zu entrinnen, fragt sie recht beiläufig, wie es mir denn so geht.

„Ach, es hält sich in Grenzen,“ antworte ich. „Es gibt gerade Ärger im Büro.“ Noch durch den Hörer dringt Jürgens Aufschrei im Hintergrund. „Du, ich muss auflegen – da ist etwas passiert,“ sagt sie eilig, und schon ist die Leitung tot.

Das war ja nicht sehr erfolgreich. Immerhin, die Information ist drüben. Die beiden können sich also schon nicht mehr beschweren, wenn irgendwann Details meiner aktuellen Verwicklung offenbar werden. Ich habe sie nicht ausgesperrt – ich hatte nur keine Chance, mit derart unwichtigen Nachrichten gegen die Zwillinge anzukommen.

Evelyn ist die nächste, aber sie ist nicht da. Kein Wunder – nach den letzten Meldungen von ihr ist sie gerade wieder einmal frisch verliebt und in dem Stadium, in dem einem die ganze Welt gestohlen bleiben kann, solange nur der Angebetete da ist; real oder in Gedanken. Die allerersten vorsichtigen Anfänge dieser aktuellen Beziehung habe ich mir noch innerlich schmunzelnd angehört, und die Details verglichen mit der Verrücktheit, die mich im Hinblick auf Philipp erfasst hatte. Das hat Spaß gemacht. Jetzt aber die Berichte über echte Beziehungsfortschritte mit anhören zu müssen, das wird schwer, wo meine Träume so massiv gescheitert sind. Von daher ist ihre Abwesenheit vielleicht ganz gut. Ich brüte Trübsinn aus, und sie schwelgt in sexueller Erfüllung; keine gute Mischung. In jedem Fall schicke ich ihr aber ein SMS, sie soll sich doch mal melden, sollte sie zufälligerweise das gemeinsame Bett mit Märchenprinzchen für ein paar Minuten verlassen.

Was mir an Evelyn gefällt – sie ist ehrlich. Sie lebt die Vernarrtheit der ersten Wochen ebenso ungehemmt aus wie die Ernüchterung der Phase danach. Und da sie nun einmal Stadium 1 lieber mag als Stadium 2, wovon auch immer das gefolgt werden könnte, bewegt sie sich meistens eben da. Mit der Konsequenz, dass Stadium 2 meistens der schnelle Weg zum Abschied ist und kein Durchgangslager zur dauerhaften Partnerschaft. Sie ist glücklich dabei. Sie pickt sich nur die Rosinen heraus, wie sie sagt. Und was die Männer betrifft, die den Abschied von ihr bekommen – was soll’s. Normalerweise sind sie es doch, die beim ersten Anschein einer ernsthaften Beziehung das Weite suchen. Schadet nichts, dass sie bei Evelyn auch einmal die Kehrseite einer solchen Flucht für den zweiten Beteiligten zu spüren, ohne den das ganze Spiel nicht funktioniert.

Manchmal beneide ich Evelyn. Nein; nicht manchmal – sehr oft. Gerade jetzt habe ich ja wieder gesehen, wie schön es ist, verliebt zu sein – und wie mühsam und gefährlich, daraus mehr zu machen als einen heimlichen Schwarm; sich näher zu kommen. Vielleicht sollte man wirklich nur das eine nehmen und auf das andere pfeifen. Eigentlich macht sie es genau richtig. Sie surft auf den hohen Wellen durchs Leben, während ich immer wieder versuche, meine Lebenseinöde treu, brav und gewissenhaft zu beackern. Letztlich ist jede von uns beiden immer mal wieder in entscheidenden Momenten allein, wenn man sich einen Lebenspartner wünscht. Aber sie hat wenigstens Spaß an dem, was davor und danach kommt; während ich mir den Spaß oft genug selbst gründlich zunichte mache.

Egal; das kann ich jetzt heute Abend auch nicht mehr ändern.

Bleibt noch Martina. Unsere Karrierefrau. Wäre ihre Stimme nicht so wahnsinnig weiblich-sanft, man könnte fast glauben, mit einem Mann zu reden. Ständig nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Meetings, Vorgesetzte, Fortbildungen, Karrierechancen, Strategien.

Natürlich ist es langweilig, sich immer nur über Beziehungen zu unterhalten. Männer, Männer, Männer. Wie blödsinnig das ist, zeigt ja schon die Tatsache, dass Männer untereinander nicht einmal halb so oft über Frauen reden. Das eröffnet eine echte Hackordnung. Erst kommen die Frauen, darüber die Männer, nämlich das, womit die Frauen sich beschäftigen, und am Ende stehen dann Fußball, Computer und Jobs. Das, wofür die Männer ihr Hirnschmalz verbrauchen. Fragt sich nur, worüber Fußbälle so reden, wenn sie miteinander allein sind.

Trotzdem; ich zumindest finde es erheblich interessanter, die Geburtswehen einer Beziehung in Gedanken zu begleiten oder nachzuerleben, als die Strategiespiele am Arbeitsplatz.

Das Ergebnis sieht man; Martina ist erfolgreich, hat in den letzten Jahren etliche Beförderungen erhaschen können, und ich muss mir noch um dieses traurige Schauspiel eines Jobs als Erotikmieze bei einem drittklassigen Magazin Sorgen machen. Mein Karrieresprung geht nach unten. Vom Magazin zum Anzeigenblatt. Ich kann mir schon vorstellen, wie Martina darüber innerlich die Nase rümpfen wird, trotz all ihrer aufmunternden Worte nach außen, die sie im Zweifel beim letzten Motivationstraining aufgeschnappt hat und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit weitergibt. Nein, ich glaube, den Anruf bei ihr verschiebe ich lieber noch ein bisschen.

Es gibt halt Wertungen nach innen, und Wertungen nach außen. Und wenn ich innerlich noch so zufrieden mit etwas bin, kann ich mich trotzdem schämen, es anderen zu erzählen. Ist das nicht normal, neben der eigenen Meßlatte gleichzeitig die der Gesellschaft oder wenigstens einzelner näher bekannter Mitglieder derselben im Kopf zu halten und wie ein kleines Kind in einen Schnellwachswettbewerb zu verfallen?

Das Telefon klingelt. Habe ich jetzt durch meine ganze Nachdenkerei über sie den Kontakt mit Martina auf mystische Weise selbst herbeigeführt?

Nicht ganz; es ist Deinar. Er klingt merkwürdig gehetzt und genervt. „Ich wollte Ihnen nur kurz mitteilen, Mondheim hat gerade angerufen – man wird Sie beim Magazin schon zum Monatsende gehen lassen. Bis dahin allerdings müssen Sie arbeiten – der Urlaub wird Ihnen dann ausgezahlt. Mehr war leider nicht herauszuholen.“ Er verkündet das mit Grabesstimme, als ginge es um das Ende der Welt. Dabei ist es eine astreine Glücksnachricht. Nur noch ein Monat unter Philipps Fuchtel, und wie gesagt, das Geld für den Urlaub kann ich sehr gut gebrauchen; zumal angesichts des etwas geringeren Gehalts bei Mondheim.

Irgendetwas stimmt da nicht. Deinar hat etwas. Und ich will wissen, was es ist. Ich bedanke mich erst einmal – ganz ehrlich, aus vollem Herzen -, dann frage ich nach. „Sie klingen so, als wollten Sie mir etwas andeuten, was Sie nicht laut aussprechen wollen.“

Er zögert merkbar. „Ja, es gibt da etwas. Aber das ist nichts für das Telefon. Können Sie diese Woche abends noch einmal bei uns vorbeikommen? Vielleicht am Freitag? Sie müssen ja ohnehin den Vertrag unterschreiben, den mache ich bis dahin auch fertig, damit alles seine Ordnung hat.“

Der kleine Neugierwurm fängt jetzt schon an, in meinen Eingeweiden zu rumoren. Nun ist schon einmal alles geklärt, das so rasch und überwältigend hereingebrochene Chaos eingedämmt – und doch lauert irgendwo noch eine weitere Überraschung auf mich, die bestimmt keine positive ist, wenn ich Deinars Stimmung richtig deute. Wie soll ich das bloß bis übermorgen aushalten mit meinen eigenen Vermutungen, die bestimmt viel schlimmer sind als die nackten Fakten?

Andererseits – Freitag Abend. Letzten Freitag Abend hat alles angefangen, aus dem Ruder zu laufen. Von daher ist dieser Freitag Abend ein passender Termin für das letzte Puzzlestückchen. Wenn es denn das letzte wird.

***

Es ist kaum zu glauben, aber ich schaffe es am nächsten Morgen tatsächlich, bei der Arbeit aufzutauchen, als sei es ein ganz stinknormaler Donnerstag. Und als hätte es den ganzen Wirbel vorher nie gegeben.

Allerdings bin ich die einzige weit und breit mit dieser Einstellung. Die Kolleginnen und Kollegen tuscheln, unterbrechen alles, wenn ich mich nähere, und starren mich an wie ein achtes Weltwunder oder den endlich gefundenen Sündenbock für die Wirtschaftsmisere. Den Mut jedoch, mich direkt anzusprechen auf das, was ersichtlich meine letzten drei Tage durcheinander gebracht hat, den hat keiner. Und ich werde bestimmt niemandem freiwillig etwas auf die Nase binden; nicht einmal ein Taschentuch. Apropos – das von Deinar darf ich morgen Abend nicht vergessen; gewaschen und gebügelt ist es schon und sorgfältigst gefaltet. Ein reines Hausfrauenmeisterwerk. Die würden staunen, meine Kollegen, wenn sie das Ergebnis sehen würden; die stufen mich doch alle als Schlampe ein, nur weil ich über Erotik schreibe und auf meinem Schreibtisch meistens Chaos herrscht.

Aber was stört es mich, was die denken. Nur noch wenige Wochen sind es, die ich die Bagage sehen muss – etwas über drei. Dann bin ich sie los. Endgültig.

Inklusive des Herrn Chefredakteur, der offensichtlich jeden Kontakt zu mir vermeiden will. Die Ausdrucke meiner beiden Artikel, die dann wohl doch morgen wie üblich fällig sind, am Abgabefreitag, der jede Woche wieder unsere Nerven strapaziert, liegen auf meinem Schreibtisch, mit handschriftlichem Gekrakel versehen. Dafür, dass er sie eigentlich in der aktuellen, ohnehin ja schon korrigierten Fassung ganz gut fand, hat er jetzt noch bemerkenswert viel daran zu nörgeln. Wobei jeder, der Kritik übt, eigentlich Wert auf Verständlichkeit legen sollte. Er achtet nicht einmal auf Lesbarkeit.

Immerhin, ich kenne seine Sauklaue ja schon eine Weile, irgendwann ist das Rätsel entziffert. Bloß, was er damit meint: „Rechtliche Folgen erläutern“? Bin ich jetzt auf einmal auch noch der Hausjurist? Außerdem, bei einem Artikel übers Fremdgehen, was haben die Anwälte denn dabei zu suchen? Wahrscheinlich sieht Philipp zu viele amerikanische Filme. Selbst zu mir hat es sich herumgesprochen, dass das Schuldprinzip im Scheidungsrecht nicht mehr existiert. Welche Rolle sollte das also rein juristisch spielen, ob er sie betrügt oder sie ihn? Im übrigen gibt der Artikel ja Ratschläge dafür, wie man sich eine Affäre entweder erspart, oder wie man, wenn man denn gar nicht widerstehen kann, seine Spuren möglichst gut verdeckt.

Was soll also dieser Blödsinn?

Wäre es wirklich ein ganz normaler Donnerstag, ich würde stracks zu seinem Zimmer marschieren und einfach nachfragen. Aber dies ist nun doch kein ganz normaler Donnerstag. Also bemühe ich das Internet und sauge mir ein paar allgemeine Belehrungen zum Unterhaltsrecht aus den Fingern, auf denen mich später niemand festnageln kann. Erst als ich den Mist eingebaut habe geht mir auf, was Philipp auch meinen könnte; vielleicht geht es gar nicht um Details, sondern um die Warnung, dass jeder Seitensprung unter Umständen eine Scheidung mit all ihren Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Aber das steht doch so schon längst drin! Noch einmal lese ich das Zeug, was ich geschrieben habe, und was mir schon am Montag zu den Ohren wieder rauskam. Es ist einfach nicht gut, sich zu lange mit etwas zu befassen. Irgendwann wird einem alles unsympathisch, und dann geht gar nichts mehr. Manu de tabula – oder so ähnlich. (Tabula rasa?) Ein guter Rat. Schade nur, dass ihn hier keiner beherzigt.

Ich finde die Stelle – genau, das steht einfach weiter unten, das mit dem Trennungs- und Scheidungsrisiko. Also beschließe ich, den gerade erst ergänzten Mist für höchst überflüssig zu erklären und gleich wieder zu löschen. Ich lasse einfach alles so, wie es ist. Wenn Philipp Rechtsberatung bringen will, soll er einen Anwalt fragen. Ich bin dafür nicht zuständig. Notfalls habe ich ihn einfach missverstanden.

Eine Stunde später bin ich fertig. Jetzt sollte ich mir dringend die Themen für die nächste Woche überlegen, damit ich am Montag etwas vorzutragen habe in der Redaktionssitzung.

Gab es da nicht mal den guten Vorschlag, man solle immer über das schreiben, was einen augenblicklichen am meisten berührt? Wie wäre es damit – die Angst der Männer vor der Bindung? Nein – zu ausgelutscht, das Thema, und zu lahm, der Titel. Eins vor, zwei zurück – das klingt schon besser, aber ausgelutscht ist das Thema immer noch. Die andere Möglichkeit, Liebe am Arbeitsplatz, ist auch längst eine alte Stinksocke. Egal, ob die Überschrift nun so lautet oder „Computer, Meetings, Zungenküsse.“

Ich hab’s – wenn ich zwei Themen habe, die jedes für sich schon längst scheintot sind, dann mische ich doch einfach die beiden, und schon habe ich etwas Neues. Späte Rache – der Chef will mich nicht; missglücktes Rendez-vous, missglücktes Meeting; via Beziehungskorb zum Arbeitsamt. So in diese Richtung, das klingt schon viel besser. Ja, ich glaube, ich werde mal ein paar nette Sätzchen dazu in eine Datei tippen. Was tun, wenn der Mensch, mit dem man einfach nur bis zur Bewusstlosigkeit vögeln will, einem nicht nur die kalte Schulter zeigt, sondern auch noch die Vorgesetztenkarte? Je nachdem – in gelb oder in rot. Mit ein bisschen Schikane drauf, oder womöglich sogar gleich der Kündigung. Ja, ja – das gefällt mir.

In einer irren Geschwindigkeit bringe ich den ersten Entwurf zustande. Das wird Philipp gefallen! Ja, ich weiß – ich wollte es mir abgewöhnen, andauernd an ihn zu denken. Solange ich mich noch an ihm rächen will, ist der Anfall an Geistesumnachtung noch immer nicht vorbei. Aber ein ganz winziges Bisschen boshaft darf ich doch sein, oder?

Für meine Stimmung war es jedenfalls ein echter Raketenauftrieb; ich fühle mich viel besser. Und vor allem, ich glaube, ich bin jetzt wenigstens einer Begegnung mit Philipp gewachsen. Nicht dass ich sie mit Gewalt herbeiführen würde; wozu gibt es denn das firmeninterne Netz. Ich schicke ihm ein Mail mit den Korrekturen für morgen, und ein weiteres mit dem ersten Vorschlag für nächste Woche. So, jetzt ist er wieder dran. Zumindest kann mir keiner nachsagen, ich würde mich vor irgendeiner Arbeit drücken.


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