Wer läuft wem hinterher?

5. Oktober 2012

Ich bin so schnell gegangen, ich komme langsam außer Atem. Es wird Zeit, das Handy herauszuholen und ein Taxi zu rufen. Den ganzen Weg bis zu meiner Wohnung kann ich unmöglich laufen. Ich hasse Sport sowieso; trotzdem ich natürlich schon regelmäßig etwas tue, um mich fit zu halten. Obwohl, ist eigentlich ganz praktisch, wenn die Wut Flügel verleiht.

Wenn man vom Teufel spricht … Kaum habe ich an mein Handy gedacht, fängt das auch schon an zu piepsen. Ein SMS. Das kann eigentlich nur der Kundendienst sein, der mir einen neuen Tarif andrehen will. Alles, was so angeboten wird wie Sauerbier, kann für mich doch eigentlich nur nachteilhaft sein, oder? Mist, dass ich das Zeug nicht gleich löschen kann. Aber manchmal gibt es auch Absender, die wollen wirklich etwas. Es kann eine Freundin sein, die Hilfe braucht und mich per Festnetz nicht erreicht hat oder einfach nur quatschen will und sich vorher vergewissern, ob ich noch wach bin. Wer mich einmal am Telefon erlebt hat, nachdem ich durch das Klingeln geweckt wurde, der riskiert das nie wieder.

Mühsam krame ich das kleine silberne Klappteil aus der Tasche. Ein wirklich niedliches Ding. Hat sogar eine Digitalkamera, aber das habe ich erst bemerkt, als ich es für einen Euro ergattert hatte, mit Hilfe einer Vertragsverlängerung.

Es geht doch nichts über einen farbigen Bildschirm. Eine neue Nachricht erhalten. Jetzt lesen? Ja, was glauben die denn? Hätte ich sonst auf das dezente elektronische Bimmeln reagiert?

Den Absender kenne ich nicht. Also doch nicht der Kundendienst. „Bleib doch bitte stehen!“

Wer erlaubt sich hier einen dummen Scherz mit mir?

In der nächsten Sekunde weiß ich, von wem die Nachricht stammt. Das ist ja wohl die Höhe! Im elektronischen Zeitalter spart man es sich noch, der Dame des Herzens in personam hinterherzulaufen – man stoppt sie einfach per SMS!

Man stelle sich einmal vor, viele der alten Liebesgeschichten und –filme, und einfach ein Handy importiert – da wäre doch manches gar nicht oder ganz anders passiert.

Eben jener Fortschritt macht mich aber gleichzeitig auch unabhängig. Ich brauche den Herrn nicht, damit er mich nach Hause bringt – ich kann mir jederzeit ein anderes Transportmittel herbeiholen. Und ein SMS kann man weiß Gott leichter ignorieren als eine persönliche Ansprache. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen würde, an diesem Abend noch einmal abzuhauen, wenn er mir direkt gegenüber steht. Aber das SMS löschen, das geht leicht.

Obwohl, nein, löschen werde ich es nicht – lieber zur Erinnerung aufheben. Um mich darüber zu amüsieren, in ein paar Tagen, wenn ich den Schock überstanden habe und über ihn hinweg bin.

Bloß, eine Antwort gibt es natürlich nicht. Digitales Nachlaufen – darauf reagiert allenfalls Lara Croft, oder wie die Tante heißt. Und ob man der wirklich begegnen will, ist noch die Frage.

Ich klappe den Deckel wieder zu und verstaue mein geliebtes, nicht einmal handtellergroßes Wunderwerk in der Tasche, nehme meinen Sauseschritt wieder auf.

Es wäre eine bessere Idee gewesen, ein Taxi herbeizutelefonieren. Dann wäre ich schon verschwunden gewesen, bevor ein Klacken von Stiefelabsätzen hinter mir die Ankunft des SMS-Absenders persönlich ankündigen. Jedenfalls nehme ich an, dass er es ist. Umdrehen kann ich mich ja schlecht.

Ich gehe noch ein wenig schneller. Auch die Abfolge hinter mir beschleunigt sich.

Verdammt, vielleicht sollte ich mich doch umsehen, wer das ist. Schließlich habe ich genügend Krimis gesehen zu wissen, es kann auch der irre Mörder auf der Suche nach dem nächsten Opfer sein. Nicht dass eine solche Vorstellung in ihrer Härte jemals erfasst werden kann, bevor man in einer solchen Situation ist, von der man nie wirklich glaubte, sie könne einem geschehen. Das Wissen, wie grausam das Leben zuschlagen kann, ist ein leiser, zurückhaltender Gast. Aber Angst habe ich doch ein bisschen.

„Verdammt, jetzt halt doch mal an!“

Die Stimme ist unverkennbar. Auch wenn der Rufer ganz schön außer Puste ist. Wohl nicht sehr trainiert, der Herr Chefredakteur. Ich überlege einen Schritt lang, ziehe dann den Fuß zurück, bleibe stehen. Ein Wettrennen ist mir dann doch zu blöde. Nur, weiter entgegenkommen werde ich ihm nicht.

Er kommt angehastet, prustend, hält sich die Seite. Seitenstechen ist immer gut. Das macht ihn vielleicht ein bisschen demütiger.

Von wegen. Man ist sauer. „Spinnst du eigentlich? Was soll ich denn noch machen, dich mit einem Lasso einfangen?“ Schade nur, dass Zorn so niedlich klingt, wenn die Worte so atemlos gestammelt werden.

Beinahe muss ich lachen. „Ich denke, du läufst keinen Damen hinterher?“

Er beugt sich vornüber, Hände auf den Oberschenkeln, versucht, tief Luft zu holen. „Tue ich auch nicht. Ich sehe hier weit und breit keine Dame.“

Meine Reaktion ist schnell und rein intuitiv, unaufhaltbar durch seriöse Gedanken. Im nächsten Moment testet meine Handinnenfläche, ob seine Wange gut rasiert ist.

 

***

 

Klatsch! Na, das hat gesessen. Mit ungeheurer Befriedigung ziehe ich meine Hand zurück. Es prickelt so schön auf der Handfläche – ein wahnsinnig tolles Gefühl, weiß ich doch, um wie viel intensiver die physische Reaktion auf der anderen Seite ist.

Er ist zusammengezuckt, aber nicht einen Ton von sich gegeben.

„Das tat gut,“ sagt er schließlich.

Was? Um Himmelswillen – ein echter Schmerzgeiler! Nichts wie weg hier, bevor ich zur Dienstleisterin mit lahmem Arm werde!

„Die erste ehrliche Reaktion von Ihnen heute Abend,“ ergänzt er und reibt sich dabei die Wange.

Wieso siezt der mich schon wieder? Ich dachte, wir seien inzwischen beim du angekommen? Wenn er das so will, bitte – aber ohne mich.

„Was denn jetzt?“ frage ich ihn provozierend. „Du – oder Sie?“

„Das kommt darauf an, welches Spiel wir spielen,“ antwortet er. Ach, wir spielen nur? Ich dachte, es ginge um etwas Ernsthaftes. Meine Lust, gleich noch einmal zuzuschlagen wächst. Aber inzwischen habe ich ja gesehen, womit ich weit besser eine Reaktion bei ihm hervorrufen kann, wie ich sie mir wünsche: Ich verschwinde einfach. Sobald ich mich ihm stelle, beginnt er das Konversationsschach, Schummeln erlaubt. Nur wenn die Gefahr droht, dass ich mich allem entziehe, dann läuft er mir plötzlich sogar hinterher; digital und real. Nur sollte ich beim nächsten Mal verhindern, dass er mich einholt, sonst landen wir sofort wieder am Schachbrett. Und mir ist die Lust an strategischen Zügen für die nächsten Tage vergangen. Die Welt ist auch ohne solche Anstrengungen für unterbeschäftigte Gehirne anstrengend genug. Wer so gar nicht ausgelastet ist, sollte lieber das Kreuzworträtsel in der Times lösen, dann ist er ebenfalls beschäftigt, und ich hab meine Ruhe.

„Weißt du was, ich habe echt genug von deinem dummen, aufgeblasenen Gerede. Du willst etwas, aber du wagst es nicht, mir das offen zu sagen oder meinetwegen auch zu zeigen. Wahrscheinlich kannst du es nicht einmal vor dir selbst zugeben, worum es dir eigentlich geht. Also schlage ich vor, du setzt dich jetzt zuerst einmal mit dir selbst auseinander, und wenn das passiert ist, dann kannst du ja versuchen, ob ich dir zuhöre, wenn du mir erzählst, zu welchem Schluss du gekommen bist. Nur Vorsicht – wenn du wieder mit derselben Kinderkacke anfängst wie heute Abend, lass es lieber gleich. Ich bin kein Punching-Ball für rhetorische Weglaufübungen.“

Nein, mir ist die praktische Übung lieber und nun schon fast vertraut – zum zweiten Mal innerhalb nicht einmal einer Viertelstunde drehe ich mich um und rausche ab. Diese Drehung führt mich leider anders als die letzte in die Gegenrichtung zu meiner Wohnung, aber was tut man nicht alles für einen guten Abgang. Ich muss ohnehin sehen, dass ich so schnell wie möglich vollständig von der Bildfläche verschwinde; nicht dass der Herr Amateurboxer noch einmal seine Künste versucht.

Inzwischen bin ich richtig wütend auf ihn. Vorher war es ein saures Prickeln – ähnlich wie dem von Zitronenbrausepulver. So schön intensiv unangenehm, dass man gar nicht genug davon kriegen kann. Das jetzt, das ist anders. Ein wenig Verachtung mischt sich in meinen Zorn. Wie kann man nur so viele Schwierigkeiten haben, das Natürlichste in der Welt zu machen, nämlich Balzverhalten zeigen? Okay, ich habe ihm auch nicht wörtlich gesagt, ich will mit ihm ins Bett steigen. Andererseits, weshalb sonst hätte ich ihn fragen sollen, ob er mit mir zusammen diese Fête besucht? Die Regeln sind doch so, dass einer einen ersten Schritt tut, der andere dann ein Stückchen entgegen rutscht, darauf bin ich wieder dran, und so weiter. Hätte ich meine Siebenmeilenstiefel angezogen bei meinem Anfang, er wäre doch ohnehin nur schreiend weggelaufen oder hätte mich kalt taxiert und als manipulatives Mannweib abgetan.

Aber dennoch. Klare Signale, ja, genau das ist es. Meine Signale waren klar. Er hingegen hatte eine ganze Signalsammlung um sich herum gestapelt, um sich immer gerade das Teil auszusuchen, auf das ich nicht vorbereitet war. Kontrastprogramm nennt man so etwas wohl.

Ja, ich bin ganz stolz auf mich, dass ich so schnell definieren kann, was es ist an seinem Verhalten, das mich so annervt – die Widersprüchlichkeit. Machen wir uns nichts vor – das heute Abend, das war ein Kampf. Eher ein Geplänkel als eine Schlacht, aber es war ein Kampf. Ich war ausgezogen, ihn zu erobern. Das weiß ich, und das weiß auch er. Statt sich nun zu überlegen, ob er sich erobern lassen will oder nicht und im Falle eines Nein einfach allem aus dem Wege zu gehen, hat er sich breitbeinig dem Kampf gestellt. Bloß hat er dann nacheinander gleich Dutzend verschiedene Arenen aufgemacht (ich will, ich will nicht, ja, nein, vielleicht, unter Umständen, zu bestimmten Bedingungen, ich weiß nicht waren die Eckpunkte), und immer wenn ich mich gerade auf die dortigen Regeln eingestellt hatte, wisch! war er schon wieder weg auf einem neuen Platz mit neuer Gebrauchsanweisung.

Ob das nun daran liegt, dass er wirklich nicht weiß, was er will, oder ob er nur Probleme hat, mir sein erstrebtes Ziel begreiflich zu machen, das ist mir relativ schnuppe; das Ergebnis ist dasselbe. Für ihn wie für mich.

Hoffnungslos, eine solche Auseinandersetzung gewinnen zu wollen. Wobei, selbst die eindeutige Niederlage würde er wahrscheinlich dadurch verwässern, dass er schnell noch einen Strauß Rosen ans Krankenbett schickt und sich dadurch erneut alles offen hält.

Nein, das will ich nicht. Ich mag keine Eiertänze – höchstens auf einer ganz eng begrenzten Stelle, und da hätte bestimmt er etwas dagegen.

Ich kann es akzeptieren, wenn er mit mir nichts anfangen will. Ganz gleich, ob es daran liegt, dass er den Arbeitsplatz sauber halten will, oder mich schlicht nicht mag. Gut, ich gebe zu, es wäre nicht einfach, eine solche Ablehnung wirklich zu schlucken; aber dann wüsste ich wenigstens, woran ich bin. Dieses Hin- und Hergescheuche jedoch ist mir zuwider.

Ob er eigentlich überhaupt mit SM etwas anfangen kann? Oder war das auch bloß Theater? Irgendwann einmal habe ich mir geschworen, ich werde mich nie wieder in eine reine Blümchenbeziehung hineinstürzen. Warum, weiß ich gar nicht mehr so genau. Das Leben ganz ohne Erotik ist auch nicht besser als das ohne den besonderen Pfeffer von Macht und Schmerz. Es ist schon richtig; wenn ich IHN nun einmal voller Liebe schlagen möchte und hören, wie ER dabei aufstöhnt, und ER das für pervers hält oder, schlimmer, für eine Körperverletzung, die er gleich dem Staatsanwalt berichtet (nicht dass der bei einem solchen Privatklagedelikt viel unternehmen würde – außer es vielleicht weitererzählen), wenn mir also die Hände in dem gebunden sind, was für mich unbedingt dazugehört zu erfüllendem Sex, dann ist diese Lücke anfangs, auf Wolke 7 der ersten Verliebtheit, noch ganz gut zu verkraften. Je länger eine Beziehung jedoch dauert, desto weiter klafft sie, und desto unangenehmer ist sie spürbar. Es ist einfach dasselbe, als müsse ich einen anderen wesentlichen Teil von mir verbergen. Immer ein schmerzhafter Riss.

Natürlich stimmt man nie mit einem anderen hundertprozentig zusammen; aber wenn man über so wichtige Dinge wie erotische Wünsche nicht einmal vernünftig miteinander reden kann, was ist die Beziehung dann wert? Wenn etwas in mir drin ist, das mich manchmal genügend beherrscht, um alles andere auszublenden, in den Augenblicken nämlich, in denen ich wirklich geil bin, wie viel bedeutet ein Zusammenschluss, der genau das ausklammert?

Ach, ist ja auch egal. Philipp kann zig-mal ein SM’ler sein – mit einem solchen Mann sollte ich mich auf jeden Fall nicht abgeben. Selbst wenn er devot wäre, würde er doch meine an sich per Vereinbarung manchmal bestehende Überlegenheit konstant in Frage stellen und bestimmt auch gerade in den unpassendsten Momenten entsprechend reagieren. Und falls er in der Tat dominant ist, so wie er mich glauben lassen wollte, dann könnten wir uns zwar stundenlang über die Sinnliche Magie austauschen, bräuchten allerdings fürs Ausleben einen gemeinsamen Sklaven. Im Zweifel weiblich natürlich.

Vielleicht hat er deshalb Cindy mitgebracht? Oder hatte das einen anderen Grund?

Noch während ich so vor mich hinstürme, durch ein kleines Gässchen in die nächste Querstraße haste, um vor Verfolgung ganz sicher zu sein, und den Gedanken an ein Taxi deshalb so weit von mir weise, weil man im Laufen so schön Nachdenken kann, geht mir auf einmal etwas auf.

Philipp wusste, dass ich etwas mit SM anfangen kann. Aber er wusste bestimmt nicht, auf welcher Seite ich stehe; darauf habe ich schon Wert gelegt, das zu verschleiern. Die dummen Bemerkungen der Kollegen sind schon schlimm genug, wenn es um eine imaginäre Domina geht. Die in ihren Augen immer die perfekte wunscherfüllende Traumfrau ist, daneben aber außer im Kasernenhofton kein Wort herausbringt und sich ständig per Reitgerte Gehör verschafft. Nicht auszudenken, wie die gewitzelt hätten, hätten sie mich klar dort einordnen können. Mit der anderen Seite wäre es nicht besser gewesen. Schon am nächsten Tag hätte mir bestimmt mindestens einer eine Hundeleine mitgebracht, und herumkommandiert hätte man mich noch dreimal schärfer, als das jetzt der Fall ist. Meine einzige Rettung vor Spott aus der einen oder anderen Richtung war es, meine Faszination zwar offen zuzugeben, aber auf jegliche Konkretisierung zu verzichten. Das geht ja nun auch wirklich keinen etwas an. Ich hasse sowieso die überzeugten Subkulturler, die Aufklärung über SM zum Selbstzweck und Lebensinhalt machen und Exhibitionismus mit Argumenten verwechseln. Oder schlichtweg das Interesse der Öffentlichkeit an Details – außerhalb irgendwelcher Voyeurshintergründe – überschätzen.

Jedenfalls, Philipp konnte gar nicht wissen, wo ich stehe. Vielleicht war das mit dem Dom-Outfit nur ein Irrtum, keine Absichtserklärung. Dann ist zumindest das Spielchen nicht ganz so fies, wie ich erst dachte. Ja, wer weiß, vielleicht wollte er mir damit sogar einen Gefallen tun.

Ein schönes Gefühl übrigens, seinen Vornamen zu denken; was ich mir vor diesem Abend nie erlaubt habe.

Ich scheine nicht mehr ganz so sauer auf ihn zu sein. Bedauern über meinen frostigen Klarheitsfimmel vorhin hat mich allerdings auch noch nicht gepackt. Zum Glück; wer weiß, sonst würde ich womöglich versuchen, ihn auf dem Handy zu erreichen statt zu sinnieren. Seine Nummer habe ich ja jetzt, per SMS.

Ich kann mir schon vorstellen, wie er darauf reagieren würde. Nein, das ist schon ganz gut so, dieses Buch zugeklappt zu haben. Zumindest für diesen Abend.


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