Selbstbefriedigung

21. Dezember 2012

Eine zweite Idee allerdings muss noch her. Offensichtlich mache ich Fortschritte – die auch aus meinem realen Leben beziehungsweise aus Philipp zu nehmen, das ist nun selbst mir zu dumm. Ist doch ein gutes Zeichen, oder?

Oh Gott, manchmal geht mir die ganze Erotik derart auf den Geist! Ursprünglich sollte es nur ein Teil meines Arbeitsgebietes sein. Aber man kennt das ja – Versprechen sind billig, so lange man etwas beziehungsweise jemanden haben will; rein mitarbeitertechnisch gesehen. Und hat man es dann, ist es ja auch völlig überflüssig, sie einzuhalten. Hoffentlich läuft das bei Deinar nicht genauso. Auf der anderen Seite, die Alternative zur Erotikmieze wäre ebenfalls typischer Frauenkram gewesen. Mode, Familienberatung und so. Wobei die Grenzen der beiden Themen fließend sind – siehe Fremdgehen ohne Reue und: Rote Karte vom Vorgesetzten.

Nur, wie soll ich auf Dauer über Sex schreiben, wenn ich ihn in meinem eigenen Leben mit der Lupe suchen muss? Schreiben, schreiben, schreiben; immer nur darüber schreiben. Über das Glück der ersten Stunde, die Probleme der zweiten, und den Trennungsschmerz der dritten. Wie kommt es, dass ich bei Philipp die erste Stunde total übersprungen habe?

Oh nein, nicht schon wieder dieses Thema!

Was ich will, das ist ein wenig pure, ungetrübte Freude an einem anderen Menschen. An der Art, wie er geht, wie er spricht, wie seine Stimme sich verändert, wenn er etwas Zärtliches sagt. Daran, die Fingerspitzen ganz sanft über seine Haut fahren zu lassen. Daran, so angesehen zu werden, als sei man das Kostbarste im Leben. Klar hält das alles nicht an; klar tauchen früher oder später die ganz handfesten Probleme auf, über die ich normalerweise schreibe. Aber die kommen doch erst, wenn man diese Wunderzeit auch hatte. Jedenfalls sollten sie das.

Und wenn das schon im realen Leben nicht klappt, dann kann ich immer noch darüber schreiben. Über die Wunderzeit. Genau. Ich werde mich darüber auslassen, wie das eigentlich ist, diese quicklebendige Verliebtheit mit ihren Champagnerbläschen im Blut und den Sprungfedern in den Muskeln. Erinnern kann ich mich daran ja noch; auch wenn es schon eine ganze Weile her ist seit dem letzten Glücksmal. Exakt, das ist es. Das wird mein nächster Artikel – über das Stadium zwischen erster und zweiter Verabredung. Wenn man schon weiß, der Fisch hängt an der Angel – nur probiert hat man ihn noch nicht. Natürlich ist im Zweifel die Vorfreude viel schöner als das wahre Abendessen später. Und natürlich haben Hormone, Träume und der ganze Lebensballast, den man huckepack trägt und der sich so unverschämt in alle Entscheidungen einmischt, damit ebenso viel zu tun wie rote Rosen. Doch wen interessiert das? Man muss ja nicht immer alles entromantisieren.

Nein, eine ganz kitschige Beschreibung dieses Aufputschmittels Begehren, danach ist mir jetzt. Obwohl – ist doch langweilig, immer nur aneinandergereihte Worte zu lesen. Und damit meine ich nicht bloß, dass mir die Realität dessen fehlt, was ich beschreibe. Nein, auch für unsere Leser reicht das allein noch nicht. Da muss ein wenig mehr Pepp hinein. Wie wäre es mit einem Interview? Interviews sind immer gut. Ja, genau – wir interviewen erst eine Frau, dann den Mann, beide kurz vor dem bewussten Treffen. Das sind allein schon zwei Artikel. Plus eine analysierende Zusammenfassung, das wären drei. Was mich ganz prima bis ans Ende des Monats bringt, den ich hier noch abreiten muss.

Daraus könnte man ohne weiteres sogar eine ganze Serie machen. Das Interview vor, und das nach dem Eintritt in den Vögelhimmel. Die Tage danach, die ersten Schwierigkeiten. Haben die sich doch schon wieder hineingeschlichen, diese grauen Felsenfakten, an denen man zwar mit Glück hochklettern, die man aber nicht umgehen kann. Auch recht. Wenn eine Idee gut ist, stört mich das doch nicht, ob ich dazu doch wieder in den Problempool eintauchen muss.

Wir begleiten eine Beziehung auf dem Weg nach der ersten Haltestelle, und über die ersten Holpersteine. Die Beziehungskutsche – live in unserem Magazin. Ich erwärme mich immer mehr für den Gedanken.

Meine Begeisterung trägt mich über das erste Grobkonzept hinweg. Das lasse ich mir erst einmal absegnen, bevor ich zuviel Mühe hineinstecke.

In meinem Eifer ist mir gar nicht aufgefallen, wie die Hallen sich geleert und wieder gefüllt haben. Ich habe glatt die Mittagspause verpasst. Arbeit ist eben doch ein Allheilmittel, das von allem ablenkt. Von Zahnschmerzen, Liebeskummer und Geldsorgen.

Fein, fein, fein – ein ganzes Tagewerk in nur wenigen Stunden geschafft. Nun noch das Konzept auf den Weg zu Philipp bringen, und ich kann mich befriedigt zurücklehnen.

Oder mit der ganz großen Schwierigkeit beschäftigen: Woher, zum Teufel, kriege ich die zwei Leute her, die ich interviewen will? Die einzige Verliebte, die mir einfällt, ist Evelyn. Die wird mir erstens was husten, mir soviel Zeit zu schenken – und zweitens ist bei ihr ja im Zweifel viel schneller Ende, als ich das für ein so langfristiges Projekt gebrauchen kann. Immerhin würde mir das die alte Leier der ewigen Beziehungsprobleme ersparen. Trotzdem – nein, Evelyn kommt nicht in Frage.

Natürlich kann ich das Ganze zur Not immer noch fälschen. Alles selbst machen – Fragen und Antworten. Meine Fantasie würde dazu schon ausreichen. Merken würde das auch kein Schwein, und wenn Philipp nachfragt, erzähle ich ihm etwas von journalistischem Quellenschutz. Das wäre sowieso am allerbesten – ich greife mir zwei fiktive Personen, die beschließen, sich zu einem Paar zu vereinigen. Ob ich die männliche Sicht auch so glaubhaft rüberbringe wie die weibliche weiß ich natürlich nicht; aber Philipp wird ja Korrektur lesen und kann dann die schlimmsten Schnitzer ausbügeln. Wenn ich als Mann zu sehr auf die Klamotten achte, oder auf die Augen statt auf die Titten. Wenn ich das Vorspiel zu lange ausdehne, zu sanft bin, zu zuverlässig. Sonst noch Vorurteile, die ich bedienen muss, damit man mir das Ergebnis glaubt?

Oder vielleicht mache ich es ganz anders – ich schreibe mir den Mann so, wie ich ihn mir wünschen würde. Und dann halte ich das Ergebnis den anderen als Richtschnur vor, der sie gefälligst hinterher zu hecheln haben, um die Frauen zufrieden zu stellen. Statt „Blasen – aber richtig“ eine Nummer aus der Reihe „Was ich tun muss, um überhaupt soweit zu kommen“.

Klasse.

Ein kleines Blinken macht mich auf ein neues Mail aufmerksam. Von Philipp – der Angestelltenbeziehungskorbartikel ist abgelehnt. Was ein Wunder. Dass es allerdings so rundweg und glatt geschieht, ohne jede Detailkritik und ohne jede Chance, ihn mit einer Überarbeitung doch noch unterzubringen, das ist neu.

Ob er es tatsächlich darauf anlegt, mich hier die Knute spüren zu lassen? Dass er sich da mal nicht täuscht; mein Empfang ist abgestellt.

Stimmt ja gar nicht; auf einmal fällt mir die seltsame Stimmung von Deinar wieder ein. Irgendetwas ist hier, das stinkt zum Himmel. Das kann ein Fettnäpfchen sein, dessen Inhalt ich auf Philipps saubere Hemdbrust habe spritzen lassen (weiß der Himmel – genügend angestellt für solche Folgen habe ich ja nun wirklich), das kann eine weitere Sauerei sein, die mein heißgeliebter Chef und Arbeitgeber in Person von Philipp und Meisig plant. Oder etwas ganz anderes, für das meine Vorstellungskraft momentan nicht ausreicht.

Was auch immer – da ist etwas. Und ich kann nicht als Dickhäuter durch die Tage marschieren; also ist es vielleicht am besten, ich versuche herauszufinden, wo der Bartel die Suppe kocht, die ich entweder angerichtet habe, oder auslöffeln soll.

Die barsche Abfuhr meines zugegebenermaßen etwas provozierenden Artikels gibt mir den Anlass, den ich brauche. Auf zum Chefredakteur, ganz empörte Unschuld.

***

Philipp ist zwar da, aber er telefoniert. Immerhin schafft er es nebenbei, mich ins Zimmer zu winken. Da seine Handbewegung nicht auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch endet, bleibe ich allerdings lieber stehen. Das stört ihn auch mehr in seiner Konzentration.

Viel sagen tut er nicht; das meiste Reden scheint sein Gesprächspartner zu übernehmen. Oder er hält sich zurück, weil er einen Zuhörer hat. Dass er den Blickkontakt mit mir vermeidet, gibt mir jedenfalls die Gelegenheit, ihn mir einmal wieder so richtig gründlich von oben herab zu betrachten. Der seltsame Freitag Abend kommt mir mehr und mehr wie ein irrer Traum vor. Das kann ja wohl nicht sein, dieses Anzugsbürschchen in Leder und mit einer Tussi im Leinenschlepptau; diese frischrasierte Arbeitswange mit meinen Fingern drauf kleben.

Vielleicht war das der einzige ehrliche Moment, die Ohrfeige. Was ist dann bloß passiert? Hätte das nicht eigentlich die Überleitung sein müssen zu einer Umarmung, einem ausdauernden Zungenkuss, und später, in seiner oder meiner Wohnung, noch mehr? Erst einmal Blümchen natürlich, sicherheitshalber, so lange man sich nicht sehr gut kennt, aber schon mit den ersten Ausflügen ins sinnlich-magische Reich?

Je mehr ich nachdenke über die Geschehnisse der letzten Tage, desto konfuser wird alles in meinem Kopf. Kann das Leben nicht mal ein bisschen einfacher sein? So, dass man durchschaut, was abgeht, und entsprechend reagieren kann?

Auf einmal ist mir, als würde ich ihn das erste Mal sehen.

In wen oder was habe ich mich eigentlich verliebt? In ihn, in diesen Menschen, der da in zwei Meter Entfernung so preußisch gerade auf dem Lederchefsessel thront? Oder in das Bild von ihm in meinem Kopf? Das, wo unter dem dunklen Anzug die Leidenschaft brodelt? Wahrscheinlich eher in letzteres. Mit dem echten weißen gestärkten Hemdkragen kann ich nur wenig anfangen, und umgekehrt gilt das genauso, das hat man ja gesehen. Trotzdem, ich bin ganz sicher, täte er jetzt einen Schritt auf mich zu, ich würde sofort dahinschmelzen. Egal, ob es eine Einladung zum Kaffee wäre oder ein nettes, privates Wort. Ja, ein winziger Schritt müsste es nur sein. Allerdings einer speziell für mich. Allgemeine Nettigkeit wird da nichts mehr retten. Soweit bin ich immerhin schon mit meiner Abnabelung von missglückten Hormonemotionen gekommen.

Das Telefonat nähert sich seinem Ende. Er legt auf, starrt noch einen Moment lang den Apparat an, als sei es eine heilige Kuh, die ihm Kraft geben kann. Dann sieht er hoch zu mir. Nüchtern, kalt. Böse.

„Sag mal, willst du mich mit aller Gewalt bloßstellen? Was ist denn das wieder für eine neue Schnapsidee? Wer hat dir diesen dümmlichen Floh ins Ohr gesetzt, man müsse sich andauernd mit Liebe am Arbeitsplatz beschäftigen? Ist dir irgendetwas zu Kopf gestiegen? Hast du dir Hoffnungen gemacht, nur weil ich mich habe überreden lassen, mit dir zusammen auf eine Party zu gehen, über die unser Magazin einen Bericht bringt? Eine rein beruflich-freundschaftliche Geste war das. Aber nein, du machst daraus gleich eine Liebesgeschichte. Und damit nicht genug, packst du es gleich noch in eine Geschichte, damit auch ja jeder hier im Haus deine verirrten Gedanken brandheiß mitbekommt. Für den Fall, dass es jemand noch nicht gemerkt haben sollte. Dann kann ich das abbiegen, in letzter Minute, sozusagen, und was tust du? Kommst schon wieder auf dieses Thema zurück, und heulst dich schriftlich darüber aus, dass deine Traumidee von einer Beziehung nur in deinem Kopf existiert hat, unterstellst mir, ich würde mich an dir rächen wollen. Eine solche Verdrehung der Tatsachen ist mir hier vorher noch nicht untergekommen. An sich wollte ich milde mit dir umgehen, dir die harte Wahrheit ersparen. Aber das führt ja nur dazu, dass du dir versponnenen Blödsinn ausdenkst und das mit der Wirklichkeit verwechselst. Also, damit das klar ist – deine Arbeit hier wird nicht mehr gebraucht, wir haben jetzt einen besseren Mann. Und wenn du meinst, du müsstest die Schuld dafür woanders suchen als bei dir ganz allein, in irgendeiner verkorksten Erklärung, die jeglicher Realität entbehrt, dann ist das traurig genug, aber deine Sache. Ich werde es jedoch nicht zulassen, dass du mit diesem Dreck unser Magazin füllst und mich vollkommen lächerlich machst. Hast du mich verstanden?“

Die kleinen kalten Schauer des Entsetzens, die jedes seiner Worte ausgelöst hat, haben sich langsam zu meiner Kopfhaut hoch- und zu meinen Fußsohlen heruntergearbeitet. Eine undurchdringliche Mauer aus erstickender Watte verschließt mir den Mund. Ich fühle mich wie ein Erstklässler, der die Schule mit einem Zirkus verwechselt hat und dafür abgestraft wird. Erbarmungslos abgestraft. So erbarmungslos, dass er schon in seinem eigenen Kopf nicht mehr auseinanderhalten kann, ob er auf echte Zirkusumstände passend reagiert oder nicht vielmehr jeglichen Blick für das, was wirklich da ist, da war, verloren hat.

Ja, ich gebe es zu – ich habe Philipp provoziert. Ich habe mit dazu beigetragen, dass der Freitag Abend in einer Katastrophe endete. Und ich habe die Themen erst der Geschichte, jetzt des Artikels bewusst gewählt, weil mein eigenes Leben dazu Anlass gegeben hat. Nicht zuletzt, ja, das stimmt natürlich, um ihm sein pubertäres Gestümpere vor Augen zu führen. Aber genau das ist es doch – es ist erst etwas in meinem Leben geschehen, durch ihn in die Welt gesetzt, und dann habe ich darauf mit Provokation reagiert. Darf man einfach das, was zuerst kam, für unwichtig erklären und allein die Konsequenz betrachten, die, als selbständige Ursache gesehen, natürlich nur gegen mich spricht?

Was ist hier los?

Habe ich mich so vollkommen getäuscht in meiner Einschätzung, sein Mitkommen am Freitag Abend hätte ebenso private Gründe gehabt wie geschäftliche, ja, weit mehr private? Ist es wirklich so bescheuert gewesen von mir anzunehmen, er sei zumindest ansatzweise an mir auch als Frau interessiert statt nur als Untergebene? Habe ich mich so total geirrt in allem, und das war wirklich nur eine rein berufliche Unternehmung? Habe ich mir den ganzen Rest nur eingebildet?

Das kann doch nicht sein – kein Vorgesetzter geht mit irgendeinem seiner Angestellten einfach so aus Jux und Dollerei auf eine SM-Fête, kleidet sich dann noch passend und bringt eine Sub mit, die er stolz vorführt. Ich meine, wenn er mir lediglich hätte zeigen wollen, dass er nichts von mir will, hätte es ein einfaches Nein auch getan; dazu muss er nicht einen solchen Zinnober abziehen.

Liege ich völlig daneben? Oder sucht er nur alle möglichen Rechtfertigungen für sein eigenes Verhalten zusammen? Bastelt er sich eine Abfolge, in der von ihm nie ein privates Signal kam, und er folglich in purer Selbstverteidigung einer überspannten und noch dazu aggressiven Kuh ihre Grenzen aufzeigen und sie zur Vernunft bringen musste?

Scheiße, ich muss hier raus; ich muss nachdenken. In aller Ruhe, ohne diese Eisesfinger aus Beschämung und Wut, die mir das Denken ebenso unmöglich machen wie das Sprechen. Irgendetwas stottere ich; mehr als drei Silben sind es nicht, und es ergibt keinen Sinn, das weiß ich selbst. Eigentlich wollte ich ihn fragen, wovor er denn Angst hat; aber das kann nicht einmal ich aus dem Gestammel entnehmen.

Was er ohnehin ignoriert. „Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, und ich will es auch gar nicht wissen. Für den Fall, dass ich durch mein eigenes Verhalten deine wirren Illusionen mit verursacht haben sollte, tut mir das ausgesprochen Leid. Wie auch immer – ich werde mich von dir nicht länger zum Narren halten und zum Gespött der Redaktion machen lassen. Ich erwarte, dass du dich die kurze Zeit, die dir hier noch bevorsteht, absolut einwandfrei und untadelig benimmst. Sollte es noch einmal Grund zur Klage geben, kann ich dir garantieren, du wirst nicht glücklich werden damit. Und was diesen neuen Artikel betrifft, falls so ein Geschreibsel den Namen überhaupt verdient, so vergisst du ihn am besten ganz schnell. Versuche lieber, in den letzten Wochen noch mit ein bisschen Originalität zu glänzen.“

So, da habe ich’s. Hatte er mir nicht unmittelbar zuvor erklärt, meine Arbeit werde hier nicht mehr gebraucht? Scheint etwas durcheinander zu sein, der Herr. Weiß wohl selbst nicht genau, was er eigentlich sagen will.

Aber Vorsicht, Herr Chefredakteur; mein eingefrorenes Gehirn erwacht gerade wieder. Und es gibt zwei weitere Haken in seiner Strafpredigt, an denen fangen sich meine erschrockenen Gedanken. Der eine ist seine Anrede. Gerade wenn er mich in seine Schranken weisen will, wäre ein Sie alle Male geschickter als die vertrauliche Du-Form. Und der zweite Haken ist der Ausdruck „Geschreibsel“. An meiner Schreibe hatte er bisher immer kaum etwas auszusetzen, und so ein Begriff aus der – nun, sagen wir deutlicheren Mundart, der passt nicht im geringsten zu ihm. Das beweist mir, es ist keineswegs nüchterne Workflowplanung, die mir die Standpauke eingetragen hat, so wie er mich das glauben machen will, sondern da ist jemand empört. Empört, beleidigt, nachtragend, giftig.

Aha. Das hilft mir weiter bei meiner Einschätzung. Und es beruhigt mich ungemein. Ich bin doch nicht völlig abgedreht; welche Fehler ich mir auch sonst in Zusammenhang mit Philipp vorwerfen kann – und das sind einige. Aber ich weiß noch, was vorne ist und was hinten, was oben und was unten, die Welt steht nicht kopf.

Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, in welche Richtung ich gehe.

Nein, das ist keine Frage mehr. Weg will ich. Zurück. Am besten zurück an den Anfang der letzten Woche – lange vor dem Freitag, mit der Möglichkeit, diesen einfach zu vermeiden. Oder vielmehr bestimmte Aspekte und Zeiträume des Freitags. Und mit der Chance, diesem Menschen, der da so furchtbar kalt alles ableugnet, was er selbst zur Verfahrenheit der Situation beigetragen hat, von vornherein aus dem Weg zu gehen. Alles zu umgehen, was in Richtung privates Wort geht. Gar nicht erst diesen verbotenen Garten zu betreten, aus dem ich jetzt so brutal hinausgeworfen werde.

Okay, okay – die Lektion ist drin. Er will nichts von mir. Aber nicht ich habe mich geirrt in meiner Auslegung seiner Signale, sondern er sich in seinen Absichten, die die Signale hervorgerufen haben. In Ordnung – das kann passieren, und das passiert. Jedem von uns. Kein Grund, dem Irrenden lange Vorträge zu halten oder gram zu sein. Nur, wer so wenig ehrlich mit sich und seiner Umgebung ist, dass er die falschen Impulse nachher wegargumentieren will, auf andere einschlägt und sich selbst zum Unschuldslamm hochstilisiert – der benimmt sich einfach schäbig. Und der ist doch eher ein schwarzes Schaf mit Glattleder außen statt ein wolliges, weißes Lamm.

Habe ich dich, großer Meister; ich glaube, ich habe kapiert, was hier läuft. Damit ist der Zweck meines Besuches erfüllt. Es wird wieder einmal Zeit für den Abgang; aber diesmal ein ganz leiser.

Er wollte mich demütigen; das liegt, so denke ich inzwischen, auf der Hand. Und die beste Nase drehe ich ihm, wenn ich davon völlig unbeeindruckt bleibe; und sei es auch noch so scheinbar. Ganz ruhig bleiben jetzt, nicht heulen, nicht stammeln, nicht zittern. „Ich weiß wirklich nicht, worüber Sie sich aufregen. Ein Alternativvorschlag liegt schon längst auf Ihrem Tisch. Ich hoffe, ich bekomme Ihren Kommentar dazu rechtzeitig genug, um bis Montag daraus etwas machen zu können. Und jetzt entschuldigen Sie mich – ich habe noch einiges zu tun.“

Halb in der Wendung mache ich diese noch einmal rückgängig und ergänze: „Ich möchte es nicht vergessen, Ihnen noch einmal ganz ausdrücklich für Ihre Vermittlung in Sachen Mondheim zu danken. Wie sehr ich Ihnen für diese neue Stelle danken muss, das lerne ich erst jetzt langsam zu schätzen.“

So, und draußen bin ich. Und jetzt ist endgültig basta, aus alle mit Maibaum. Ja, genau – Maibaum. Weg mit Philipp, her mit Maibaum, dem Oberlehrer-Chefredakteur. Wenn die rhetorische Ohrfeige gerade eben mich nicht von dieser verfluchten Besessenheit mit kalten Eisherzen unter megaperlweißer Hemdbrust heilt, dann weiß ich es auch nicht mehr.

***

Oh, es ist nicht so, dass ich nicht innerlich koche. Ich möchte etwas auseinandernehmen, am besten Maibaums Rechner, damit er ordentlich Überstunden schieben muss, alles wieder in Ordnung zu bringen, oder den Inhalt seiner Hose, der ja anscheinend nun völlig un-zielgerichtet mal steht, mal hängt, ohne Sinn und Verstand. Aber irgendwie bin ich auch froh. Erleichtert. Ein Kapitel im Leben abzuschließen, das ist immer eine merkwürdig melancholische, aber auch gute Sache. Vor allem, wenn es ein so schiefes und unerfreuliches Kapitel ist wie das Kapitel „Wie ich versuchte, meinem Chefredakteur an die Hose zu gehen und auf der Straße landete“.

Schön, schön, schön, jetzt sind also haufenweise Energien freigesetzt für Vernünftiges. Wie Arbeit beispielsweise.

Ein neues Thema muss her. Momentan will mir mit aller Gewalt nichts einfallen. Also muss das Zaubermittel her: Ideenklau. Einfach mal ein wenig im Netz herumsurfen und schauen, ob sich da nicht eine Inspiration findet. Nein, ich schreibe kein fremdes Eigentum ab. Das ist unter meiner Würde. Ich nehme allenfalls eine Nebenidee hier, eine Hauptidee da, und schneidere einen neuen Artikelanzug daraus. Der mit dem Original im Zweifel nicht mehr das Geringste zu tun hat. Das halte ich für erlaubt. Wenn ich mir ansehe, wie oft und gründliche ganze Gedankengebäude aus meinen eigenen Artikeln kurz darauf an anderen Stellen eine neue Ausgabe stützen, muss es das auch in den Augen der anderen sein.

Intimrasur, Wachsspiele, Partnersuche, Beziehungsprobleme, die goldenen Regeln für den besseren Orgasmus – das sind die ersten Dinge, die mir ins Auge springen. Bis auf letzteres hatte ich aber alles schon einmal. Die goldenen Regeln für einen besseren Orgasmus – lassen Sie mich raten: Jawohl, es geht um den des Mannes. Warum ist der Titel dann nicht: Zungenübungen für Fortgeschrittene? Warum nicht? Vielleicht deshalb, weil das mein Titel wird? Obwohl, nein, derzeit ist mir wirklich nicht nach Schwanz. Nach dem passenden Pendant auch nicht. Dabei fällt mir ein, ich habe schon seit mindestens einer Woche nicht mehr … Ist ja auch kein Wunder, bei dem Stress.

Halt, Moment – vielleicht ist das mein Thema? Warum Frauen „es“ manchmal tagelang vergessen oder sonst unterlassen, und Männer ohne einmal täglich kaum überleben? Klingt doch eigentlich gar nicht schlecht. Und mit dem Arbeitsplatz hat es auch nichts, aber gar nichts zu tun. Obwohl ja angeblich viele Männer auch dort …

Ja, ich glaube, ich habe die Inspiration gefunden, die ich suchte. (Und sehen Sie? Mit Textklau hat das überhaupt nichts gemein!) Und wenn ich das Thema noch ein bisschen pfeffern will, frage ich meine männlichen und weiblichen Kollegen, wie sie das denn so halten. Und wo sie hier im Büro ihr Plätzchen „dafür“ gefunden haben … Na, das gibt ein Bienensummen im Haus! Natürlich werde ich sämtliche Vorgesetzten bei der Befragung aussparen; nicht, dass sich einer wieder lächerlich gemacht vorkommt.

Ich entwerfe ein kleines Anschreiben, in dem ich jedem strengste Anonymität zusichere, weil ich nicht über Einzelschicksale berichten werde, sondern lediglich Material für eine kleine allgemeine Untersuchung brauche. Selbst meine herzlichsten Bitten werden allenfalls zehn Prozent der Belegschaft zum Antworten animieren, aber das reicht ja schon. Sogar aus weniger kann man eine allgemeingültige Zusammenfassung machen. Gleich noch den kleinen Fragebogen dazu, und ab geht das Rundschreiben über den Firmenverteiler. Der Verteiler „oV“ – ohne Vorgesetzte. Maibaum kriegt ein Mail extra, ohne Anhang, nur zur Information. Damit er ja nicht auf den Gedanken kommen kann, ich wollte erfahren, ob er es nun hinter dem Getränkeautomaten, im Archivraum oder wie üblich auf dem Klo mit sich selbst treibt.

Während die anderen sich jetzt alle überlegen, ob und was sie mir antworten, kann ich ja schon einmal die Einleitung verfassen.


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