Neue Chancen

16. November 2012

Mein was? Gestern Morgen zu Beginn der Arbeit saß ich noch fest im Sattel, und jetzt bin ich nicht nur entthront, sondern mein Pferd hat auch noch ein anderer geklaut?

Was soll ich jetzt machen? Brüllen, toben, einen Schreikrampf kriegen, heulen?

Als ob das etwas nützen würde. Und befreit würde ich mich danach auch nicht füllen – allenfalls lächerlich.

Oh, verdammt, verdammt, verdammt! Ich wusste ja immer, dass mein Bleiben hier alles andere als gesichert ist. Aber Unsicherheit im warmen Nest ist nun einmal etwas ganz anderes als die Sicherheit eines Windsturmes in der Kälte ohne eben jenes Nest.

Denken; klar denken muss ich. Ich darf mich jetzt nicht überrollen lassen von Panik und Wut. Ich muss alles praktisch auf die Reihe kriegen; genau dazu bin ich doch hier.

Zwei Monate habe ich noch das vereinbarte Gehalt zu kriegen. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Und danach? Was kommt danach?

Leben wir nicht in einem Sozialstaat? Bei allen Stümpereien, die mehr zufällig als absichtlich einen der früheren Meilensteine nach dem anderen umwerfen und im Moor verfehlter Reformen untergehen lassen, so dass am Schluss nur noch Blubberblasen verbleiben – es gibt doch so etwas wie Arbeitslosengeld. Und bevor ich zu den Menschen zweiter Klasse gehören werde, die ihre Daseinsberechtigung in der Form nachweisen müssen, dass sie die Ineffizienz arroganter Mitarbeiter widerspruchslos hinnehmen, habe ich doch bestimmt schon lange etwas Neues. Umbringen wäre auch eine Alternative – fragt sich nur wen; mich, Philipp, Meisig, oder das Arbeitsamt, genannt Agentur. Auf den zweiten Blick – mit solchen Spinnereien wie Selbstmordgedanken werde ich meine Zeit nicht verschwenden. Rache ist auch viel schöner, wenn der andere Gelegenheit hat, sie zu erleben. Aber das kommt alles später – wenn überhaupt. Jetzt muss ich sehen, woher ich eine neue Stelle kriege.

Vielleicht klappt das sogar schon während der Zeit, die mir hier noch bevorsteht. Erstens habe ich meine ganzen Urlaubstage, von denen ich ihnen nicht einen einzigen schenken werden, und zum zweiten habe ich nicht vor, mich in den wenigen verbleibenden Arbeitstagen sonderlich anzustrengen. Zwingen kann man mich zu nichts. Was wollen sie denn tun, wenn ich nicht ordentlich arbeite – mir kündigen? Das ist ja schon geschehen. Na also – das gibt mir viel Zeit, mich umzusehen.

Aber zurück zum Ausgangspunkt meiner wirbelnden Gedanken. Klar denken wollte ich. Und klare Informationen erhalten.

„Das ist ja äußerst interessant,“ bemerke ich, und hoffe, er kann das Zittern in meiner Stimme nicht hören. „Wann fängt er denn an, mein Nachfolger?“

„Nächsten Monat irgendwann. Das genaue Datum weiß ich noch nicht.“

Philipp klingt selbst auch nicht munterer als ich. Ob ihm das wirklich soviel ausmacht, mich so behandeln zu müssen? Obwohl – was heißt denn hier müssen? Müssen muss er gar nicht; aber natürlich setzt er lieber mich in die Scheiße, als selbst Kuhfladen unter die Füße zu kriegen.

Heute scheint ein Tag des Räusperns zu sein; jetzt ist wieder er dran. Was denn noch? Das kann ja wohl nicht sein, dass er noch eine schlechte Nachricht parat hat!

„Nachdem ich das heute Morgen gehört habe, habe ich erst einmal ein paar Telefonate geführt. Du weißt ja, ich habe einiges an Verbindungen. Es sieht nicht sehr gut aus derzeit; die Lage ist halt allgemein schlecht. Keiner stellt neu ein, und an den meisten Orten wird sogar weiterhin abgebaut. Aber ein Gespräch war dabei, das klang doch relativ vielversprechend. Ein gewisser Mondheim, ein persönlicher Freund von mir, den ich schon lange kenne und schätze, besitzt ein kleines Anzeigenblatt. Du weißt ja, die Dinger, die immer sonntags oder so kostenlos verteilt werden. Er möchte den redaktionellen Teil darin ausbauen, unter anderem mit erotischen Inhalten. Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dass als erstes eine Fortsetzungsgeschichte dafür genau das Richtige ist. Du sollst ihn morgen anrufen; er will sehen, was sich machen lässt. Natürlich ist gerade eine SM-Geschichte absolut ungeeignet, vor allem für den Anfang – aber du kannst sie ja sicher ohne großen Aufwand in eine normale Erotikstory umschreiben.“

Ach ja? SM ist also nichts anderes als eine normale Erotikgeschichte mit speziellen Details, die man ebenso gut auch weglassen kann? Na hervorragend! Mit anderen Worten – ohne seine Lederhose und die Hundeleine ist Philipp auch nur ein ganz stinknormaler Mann, mit dem man stinknormalen Sex haben kann. Oder eben auch nicht.

Als ob es nicht ein ganz besonderes Netz an Zutaten, Empfindungen, Reizen, Erfahrungen, Verhaltensweisen gäbe, die alle zusammen mit noch weiteren, zum Teil undefinierbaren Ingredienzien die Sinnliche Magie ausmachen. Da kann man nicht einfach eine winzige Kleinigkeit wegnehmen, und schon passt alles auch für prüde Spießer. Entweder lässt man etwas Entscheidendes weg – aber dann bleibt überhaupt nichts mehr übrig. Denn SM ohne SM ist eben nicht Missionarssex – sondern schlicht: Nichts. Oder man verzichtet auf Kleinigkeiten – nur bleibt dann am Schluss immer noch eine Form der erotischen Liebe übrig, die sanfte, puritanische Gemüter erschüttert.

Aus einer SM-Story mal eben den SM rausnehmen – etwas Blöderes habe ich noch nie gehört! Käme etwa jemand auf die Idee, eine Fußballgeschichte zu schreiben und dann zu sagen, der Ball ist aber so gefährlich weiß-schwarz, also lassen wir den weg und nehmen nur den Rest?

Und überhaupt – ein Anzeigenblatt! Warum nicht gleich das bekannte Schundblatt mit B? Oder die Zeitschrift vom örtlichen Hasenzuchtverein? Nicht dass das Magazin, das ich bald nicht mehr meines nennen kann, sich nun von Qualität und Niveau her so sonderlich hervortäte im dünnbunten Blätterwald – aber ein Anzeigenblatt ist ja wohl gar kein Vergleich! Wie kann dieser Scheißkerl so etwas auch nur in Betracht ziehen für mich? Eine Arbeit, die er im Leben nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen würde?

Nun, vielleicht bin ich ein wenig vorschnell. Geld bringt sicher auch die Arbeit bei so einem Blättchen; die werden zwar kostenlos verteilt, aber doch bestimmt nicht kostenlos erstellt. Und wer Arbeit sucht, darf nicht so wählerisch sein wie die im Bundestag, die über die Folgen der Arbeitslosigkeit entscheiden.

Habe ich nicht neulich sogar einmal irgendwo gelesen, dass genau diese Druckwerke, sofern die Betreiber sich Mühe geben mit den redaktionellen Inhalten, und das soll immer häufiger vorkommen, sehr beliebt sind und eine ganz schöne Verbreitung haben? Womöglich lesen mich dann sogar mehr Leute als jetzt. Halt, nein; das kann nicht sein. Zeitungsmäßige Anzeigenverpackungen werden nur regional verteilt, und unser Magazin ist zwar klein, aber bundesweit zu erwerben.

Nein, also wirklich – dann lieber stempeln gehen. Nicht dass man heutzutage noch stempeln müsste. Obwohl das eigentlich eine bessere Idee wäre als die Wiedereinführung eines Arbeitsdienstes, von der ich neulich habe munkeln hören. Arbeitsdienst! Man fasst es nicht. Allgemeine Wehrpflicht ohne Wehr, wie zu Hitlers Zeiten. Fehlt nur noch das Volkshandy mit regelmäßigen SMS-Infos zwecks größerer Staatsbindung und gleichzeitig gut geeignet zur absoluten Verbrechensbekämpfung per automatischer Standortbestimmung. Vielleicht kann man auch gleich noch ein paar Elektroschocks reinpacken zur raschen und einfachen, vor allem aber kostengünstigen Bestrafung. Unser Staat muss ja sparen. Damit er das Geld für die ganzen überteuerten, verkorksten EDV-Projekte bezahlen kann und die Instantrenten für eifrige Staatsdiener.

„Es tut mir Leid,“ sagt Philipp und unterbricht meinen höchst interessanten Gedankengang, der gewiss einen besseren Platz verdient hat als mein Hirn. Warum schreibt nicht einmal jemand einen solchen Leitartikel, statt immer dreimal um die heiße Scheiße herumzureden? Das würde doch endlich einmal verschlungen, das hätte Wirkung. Oh, sorry – ich sollte vielleicht lieber Philipp zuhören – es klingt so aufmunternd, was er sagt. „Aber das wäre ja nur ein Anfang. Sobald du dir damit einen Namen gemacht hast, wird es auch wieder mehr Angebote geben. Ich habe dir Namen und Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben.“ Er hält mir einen der üblichen klebrigen, pissgelben Memozettel hin, der sich garantiert in meiner Handtasche mit den letzten Klebresten an ein übriggebliebenes Hustenbonbon pappen und zum allgemeinen Chaos beitragen wird.

„Bitte vergiss es nicht. Es ist wirklich eine Chance.“

Ach, nun wird man väterlich, nachdem man sich vorher jeder väterlichen Fürsorge für die Untergebenen entzogen hat? Der hat gut reden! Er hat seinen Job sicher, eine renitente Mitarbeiterin los, die ihm privat dabei war, viel zu nahe zu kommen, da kann er gut tröstende Worte verstreuen und zur Eigenberuhigung ein Almosen als Superschnäppchen verkaufen.

Ich weiß ja, es wird mir erst einmal nichts anderes übrig bleiben, als jeden blöden Mist anzunehmen, und ich finde es auch sehr nett, dass er sich überhaupt bemüht hat. Die verfluchte Sauerei, die man gerade mit mir veranstaltet, macht das aber auch nicht wieder wett; und wenn er glaubt, ich sei ihm jetzt dankbar, dann täuscht sich sein Domherz.

Eigentlich ist ohnehin alles gesagt. Und bevor ich noch vor ihm anfange zu weinen – den passenden Kloß spüre ich gerade sich formen -, stehe ich lieber auf. „Willst du schon gehen?“

„Nein – ich setz mich jetzt an meinen demnächst-Exschreibtisch und reiße mir noch ein paar Stunden den Arsch auf als Dank für die nette Behandlung,“ gebe ich patzig zurück; erstaunt, dass ich einen so komplizierten Satz noch vollständig herausbringe.

Er schürzt die Lippen. Ach ja, ich vergaß – er mag es ja nicht, wenn ich deutlich werde. „Ich würde an deiner Stelle noch ein wenig an der Geschichte feilen, damit du Mondheim beeindrucken kannst. Der Job ist dir keineswegs sicher, nur weil ich mich für dich verwendet habe. Du musst ihn dir schon selbst verdienen.“

Oh, danke, der Herr – ganz herzlichen Dank für diese umwerfend mitfühlenden Abschiedsworte!

„Weißt du, was du mich mal kannst, Philipp? Nicht am Arsch lecken – da würde ich einen solchen feigen Schleimer wie dich nämlich nie ranlassen!“

Umdrehen, drei Schritte, Tür öffnen, Tür knallen – und wieder einmal ein Superabgang.

***

Schade nur, dass selbst der beste Abgang nichts anderes ist als das; und kein Sieg.

Oh, verflucht, ich bin so unendlich wütend, ich könnte die halbe Welt umbringen! Hoffentlich begegnet mir jetzt niemand; sonst mache ich ihn wahlweise zur Schleichschnecke oder breche vor ihm schluchzend zusammen.

Nein, es scheint kaum noch jemand da zu sein, und wer da ist, hat sich in seinem Kämmerlein verkrochen.

Auf der großen Theke im Empfangsbereich liegt ein Riesenstapel Papiere. Die sind bestimmt wichtig, sonst würden sie nicht so offensichtlich daliegen, und geordnet sind sie garantiert auch. Ich weiß, es ist absolut babyhaft albern – aber es gibt mir eine gewaltige Befriedigung, die kleinen ungefalteten Flieger mit einer Armbewegung sämtlich zum Flattern zu bringen, bis sie wunderbar unordentlich auf dem typischen Noppenfußboden herumliegen. Weiß auf dezentem Dunkelblau, sieht echt klasse aus. Über ein paar Papierchen am Rande latsche ich dann noch aus Versehen drüber. Sorry, tut mir ja so Leid – ich bin halt halbblind vor Tränen, angesichts dieses Tiefschlags, den man mir soeben verpasst hat.

Ich bin noch nicht einmal auf der Straße, als ich mich des kindischen Gehabes schon schäme. Trotzdem; wäre ich wieder oben, ich würde es gleich noch mal machen – es war doch zu putzig.

Was jetzt? Nach Hause, in aller Ruhe die Wunden lecken, oder auf diesen blauen Dunst leerer Worte noch mehr Arbeit hineinstecken in diese Geschichte, die es, davon bin ich inzwischen überzeugt, niemals irgendwo geben wird?

Ob ich irgendeinem Bekannten auf die Nerven gehe? Besser nicht; Mitleid ist schwer verkraftbar, und für Schadenfreude habe ich momentan bestimmt zu feine Sensoren. Außerdem, ich weiß ja selbst, wie das ist – man lehnt sich zurück und fühlt sich so richtig gut, dass es ein anderer ist, der im Regen steht. Das können der beste Freund, die beste Freundin sein, und es spielt doch keine Rolle. Dieser Urtrieb ist zu stark. Kein Wunder – verschönert er doch sogar ein Dasein, an dem sonst nicht arg viel zu bewundern ist, das aber im Vergleich noch gut wegkommt. Nein, danach ist mir nun wirklich nicht. Meine Toleranz für menschliche Schwächen sollte momentan niemand überstrapazieren.

Am liebsten würde ich gleich diesen Mondstein, Mondhausen oder wie auch immer anrufen. Klarheit schaffen. Wenigstens ansatzweise wissen, wohin es geht im Laufe der nächsten Monate. Aktiv etwas beeinflussen. Langsam komme ich mir schon vor wie von einem Orkan herumgeschüttelt. Nur, ob da ein kleines gelbes Klebezettelchen für ausreichend Halt sorgen kann, dass ich mich dagegenstemmen kann? Immerhin – versuchen kann ich es ja.

Ich stelle mich in einen Arkadengang. Allerdings bin ich nicht die einzige, die auf die Idee gekommen ist, sich an diesem schönen, warmen Bummelabend hierhin zum Telefonieren zu verziehen; drei andere stehen auch schon da, in der typischen Haltung. Ich warte nur auf das erste Denkmal mit Handy; den Kopf leicht schief, einen Ellenbogen abgewinkelt, und der andere Arm fuchtelt herum, als ob der am anderen Ende vom Funkrohr das sehen könnte.

Sehen Sie – ich wusste es. Schon ist das Zettelchen zerknickt und klebt an etwas. Noch eine Stunde länger in meiner Handtasche, und kein Mensch kann mehr die Ziffern lesen. Noch geht es jedoch zum Glück. Bei der Nummer ist besetzt. Ein gutes Zeichen; dann arbeitet noch jemand in dem Schuppen. Als zehn Minuten später noch immer besetzt ist, verwandelt meine Freude sich langsam in fluchende Ungeduld. Beim nächsten Versuch jedoch klappt es. Eine zum Umfallen dunkle Stimme, die durch den Hörer nach Zigarettenrauch und Whiskey klingt, haucht irgendetwas von einem Anzeiger; die näheren Details erschließen sich mir nicht. „Ja, guten Abend, Senreis; ich hätte gern Herrn Mondheim gesprochen.“ Etwas wie ein Lachen antwortet mir; so rau, es könnte auch ein unterdrücktes Husten sein. „Wenn Sie Herrn Mondheim sprechen wollen, müssen Sie verdammtes Glück haben – er ist nicht oft hier. Aber falls Sie Frau Senreis sind, können Sie auch mit mir reden. Mondheim hat mich vorbereitet. Er sagte, irgendein alter Freund hätte sich ganz überraschend bei ihm gemeldet und Ihren Namen genannt, als mögliche neue Mitarbeiterin. Das passt sich eigentlich ganz gut, wir suchen dringend noch jemanden für unsere kleine Redaktion. Aber ich glaube kaum, dass wir etwas für Sie sind – wer ein Magazin gewohnt ist wie das, wo Maibaum arbeitet, für den sind wir allenfalls ein Loch im Käseblätterwald.“

Der bissige Humor gefällt mir. Er spricht aus, was andere Leute kaum zu denken wagen. Aber für eine Frechheit halte ich es doch, dass er entscheiden möchte, was etwas für mich ist und was nicht. „Warum überlassen Sie die Entscheidung nicht einfach mir? Besser als auf der Straße stehen ist das in jedem Fall.“

Ganz unmerklich ändert sich der Tonfall. „Ja, sehen Sie, Frau Senreis – da müssen Sie aber auch uns verstehen. Es hat natürlich wenig Sinn, wenn wir Sie anstellen und Sie in uns nur eine Notlösung sehen und bei nächster Gelegenheit den Absprung suchen. Ich will nicht mit jemandem zusammenarbeiten, für den eben diese Zusammenarbeit nur eine Verlegenheitslösung ist. Das kann ich nicht. Ob Sie es glauben oder nicht, in unserem Blättchen steckt Herzblut drin.“

Deutliche Worte. Ein echter Trommelwirbel an Warnungen. Ich stelle fest, diplomatische Feigheit hat doch etwas für sich, wenn man gerade der Kritikbetroffene ist. Trotzdem, er hat ja recht; und es gefällt mir, dass er das offen sagt.

Eine Antwort allerdings fällt mir erst einmal nicht ein. Was soll ich sagen? Nein, ich suche keineswegs nur ein Sprungbrett, ich wollte schon immer bei einem Anzeigenblatt arbeiten … Klar. Das glaubt er mir auch unbesehen.

Er nimmt mir weitere Überlegungen ab. „Warum kommen Sie nicht einfach einmal vorbei und schauen sich bei uns um? Dabei kann ich auch einen besseren Eindruck von Ihnen gewinnen.“

Gott sei Dank – ich bin nicht gleich durch die Maschen gefallen. „Gerne. Wann wäre es Ihnen denn recht?“ „Wie wäre es mit jetzt sofort? Ich bin noch eine Weile da, und wenn wir uns gut verstehen, lade ich Sie nachher zum Essen ein und wir schauen, ob wir zueinander passen.“

Herzerfrischend, diese Direktheit! Ich darf nur nicht daran denken, dass er mir mit ebensolcher Direktheit meine Ungeeignetheit für die Stelle erklären wird, sollte die sich herausstellen.

Aber was stört mich das jetzt; erst einmal besteht Hoffnung. Ich muss nicht zunächst eine Trauernacht hinter mich bringen, sondern kriege gleich eine Chance, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Sollte sich allerdings herausstellen, dies ist keine Chance, sondern nur der verlängerte Prügelarm meines alten Arbeitgebers, werde ich noch schlechter schlafen. Hoffnung ist besser als Gewissheit; aber ersteres drängt nun einmal nach letzterem; auch auf die Gefahr hin, dass sie platzt.

Die Adresse, die mir der Typ am Telefon sagt, von dem ich nicht einmal einen Namen habe, sagt mir gar nichts. Und seine Wegbeschreibung wäre auch für navigatorisch begabtere Leute als mich eine echte Prüfung. Ob er den Mitarbeitern ihre Aufgaben auch so schnell und umständlich erklärt? Na, das klären wir später. Erst einmal taste ich mich an die Gegend heran, in der ich das Blatt vermute, und frage an einer Tankstelle, als ich denke, es kann nicht mehr weit sein. Natürlich habe ich mich eigentlich schon verfranst, und den Bruchteil einer Sekunde lang bin ich glatt versucht, das Angebot des anwesenden Kunden anzunehmen, mich zu führen, wenn ich ihm dafür ein Bier ausgebe. Bloß, dann schreckt mich doch die Vorstellung, der Dunst der bisherigen Biere breite sich in dem engen Innenraum meines Wagens aus; außerdem, selbst ist die Frau. Vor allem als Frau.

Die Beschreibung des Tankwarts ist glücklicherweise auch gut genug, dass ich zumindest in der Parallelstraße meines Ziels lande und eine einzige weitere Nachfrage bei einer Passantin, die ihren Hund ausführt, den Rest regelt.

Das Haus sieht von außen nicht allzu vertrauenerweckend aus, und der Hausflur erinnert an einen Film Noire der schlechteren Sorte. Im ersten Stock ist ein Schild; etwas von Anzeiger, und die Tür steht einen Spalt auf. Ich klopfe, aber das hört ersichtlich keiner. Was mich nicht wundert; die Unterhaltung, die drinnen im Gang ist, wird nicht gerade leise geführt. Ich erkenne den heiseren Bass meines Gesprächspartners von eben.

Vorsichtig öffne ich die Tür und trete zögernd ein. Nach dem Film Noire im Flur begegnet mir hier nun die typische Thrilleratmosphäre. Ein Großraumbüro, das nicht groß ist, aber keinerlei Trennwände hat. Alle Arbeitsplätze nebeneinander, ein einziges Chaos an Chrom und Plastik und Technik. Und Papier natürlich.

Die beiden, die sich unterhalten, stehen mit dem Rücken zu mir vor etwas, das ein Kopierer sein könnte. Ein leises Geräusch von mir dringt anscheinend dem einen mit der helleren Stimme ins Unterbewusstsein. Er dreht sich um, sieht mich, grinst, und stößt dann dem anderen einen Ellenbogen in die Seite. Ich glaube, dein Rendez-vous wartet,“ sagt er. Na, wenn das hier der allgemeine Umgangston ist, dann gute Nacht! Da waren ja meine alten Kollegen noch weniger geeignet, Kandidat für den Chauvie des Monats bei EMMA zu werden.

Ehe ich mich es versehe, verschwindet meine nicht gerade kleine, aber doch eher schmale Hand in einer Bärentatze. Mein Telefonpartner sieht genauso aus, wie man sich den Besitzer einer solchen Urgewaltstimme vorstellt. Ivan Rebroff ohne Bart, oder so ähnlich. Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, wie Ivan Rebroff aussieht, der bestimmt in echt auch ganz anders heißt – aber sähe er so aus wie der Kerl, der da gerade die Sehnen und Knochen in meiner Hand zerquetscht, es würde gut passen.

„Freut mich, dass Sie es geschafft haben,“ höre ich. „Wissen Sie, allzu gut bin ich nicht, wenn es darum geht, einen Weg zu erklären.“ Das kann ich nur bestätigen. Und wie wäre es, wenn man mir endlich einmal einen Namen sagt? Ich kann ja wohl kaum Herr Rebroff zu ihm sagen. Kann ja sein, er gehört zu den Menschen, die nur Humor haben, solange sie selbst andere aufs Korn nehmen.

Als hätte er meine Gedanken gehört, zuckt mein Gegenüber zusammen. „Ach Gott, wo sind eigentlich meine Manieren geblieben? Das ist Jan Michel, unser Techniker, der schon lange Feierabend hat, und ich bin Martin Deinar. Mädchen für alles in diesem Saftladen hier. Deshalb arbeite ich auch oft bis in die Puppen. Wann immer etwas ist, fragen Sie mich – ich regele das dann schon irgendwie.“ Er lacht, und die Lache ist nicht einmal mehr halb so leise wie vorhin am Telefon. „Nicht immer so, wie die Leute das gerne hätten, von unserem Chef ganz zu schweigen, aber geregelt wird es.“

Der Satz bestätigt mir ein Gefühl, das mich bei diesem niedlichen großen Kuschelbären gleich überkommen hat. Den sollte man um Himmelswillen nicht unterschätzen. Er tut so lieb und nett und offen und freundlich; aber wehe, man setzt sich bei ihm in die Nesseln. Der macht gleich ein stechendes Spinnennetz daraus, und man kommt nie wieder los.

Insofern wäre er ein ähnlicher Vorgesetzter wie Philipp; immer schön simpel und umgänglich antäuschen, und dann nachher die große Keule auspacken. Wobei, die große Keule passt zu Deinar; Philipp bevorzugt ja eher das Skalpell. Möglichst mit Betäubung, damit die Opfer nicht so unangenehm schreien.

So deutlich ich aber auch schon die Maske des Teddys vor mir zu durchschauen glaube, sie wirkt dennoch. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund, der sein Verstellungstalent bestätigt, fühle ich mich wohl in dieser gefährlichen Ivan Rebroff-Wildnis.

Michel begutachtet mich unverhohlen. Bis Deinar ihn ansieht und fragt: „Wolltest du nicht gehen? Ich habe zu tun, wie du siehst.“ Michel zuckt die Achseln. „Treibt es nicht zu wild,“ bemerkt er. Aha – irgendeine schlüpfrige Bemerkung musste ja noch kommen!

„Ich packe immer erst beim zweiten Treffen meine Peitsche aus,“ erwidere ich böse, und könnte mich schon in Grund und Boden schämen, noch bevor der Satz ganz draußen ist.

Ein Meckern von Michel soll wohl ein nonchalantes Lachen darstellen. „Da müssen Sie sich bei Martin nicht zurückhalten – er liebt die Peitsche!“ Und schon verschwindet er, die Hände in den Hosentaschen, mit einem wippenden Gang wie ein Cowboy, und hinterlässt Deinar und mir die Peinlichkeit seines und meines schlechten Scherzes.


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