Neue Chancen

22. November 2012

Aber der Kuschelbär scheint geübt darin zu sein, dummen Bemerkungen den Stachel zu nehmen. „Bevor wir uns über unsere sexuellen Vorlieben unterhalten,“ sagt er, als die Tür klappt, und grinst dabei, „zeige ich Ihnen lieber erst einmal unser Reich.“

Er macht eine ausladende Handbewegung, die eher weltumspannend wirkt und die Umgebung zu sprengen scheint. „Viel ist allerdings nicht zu sehen,“ ergänzt er auch prompt. Eines steht allerdings fest – gegen die strenge, geregelte Ordnung des Magazins ist das hier eher ein chaosbeherrschter Notbehelf. Vielleicht wäre die Wirkung sogar gemütlich – wenn sich mir nicht bei dem Gedanken an ein Großraumbüro der Magen umdrehen würde.

Jedes Telefonat wird von anderen mitgehört, jedes Konzentrationsproblem schadenfroh beobachtet, und private Vergnügungen sind unmöglich; egal ob man nun in der Nase bohren, zur Erfrischung eine Patience legen oder sonst etwas machen will.

Das einzige, was mich noch interessiert ist, ob auch die Chefs sich dieser allgemeinen Verbrüderung aussetzen müssen. „Haben Sie und Mondheim wenigstens ihre eigenen Räume?“

„Ich sehe, Sie sind begeistert von unserer Arbeitsatmosphäre,“ bemerkt Deinar. „Mondheim hat natürlich ein Kabuff für sich. Durch den Gang vorne, und dann links. Direkt gegenüber vom Klo – nicht, dass Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen sollten. Ich selbst arbeite meistens mitten im Trubel. Nur wenn einmal etwas ganz Kompliziertes ansteht, verziehe ich mich in Mondheims Zimmer.“

Mondheim selbst scheint hier eher Gast als Vorarbeiter zu sein. Das kann gut sein – oder auch nicht. Wenn schon der Chef sich nur halbherzig engagiert, ist die allgemeine Haltung entweder lasch; oder man erwartet von den Mitarbeitern, dass sie sich für die Gewinne des Chefs das aufreißen, worauf er nicht einmal regelmäßig seine Stunden abzusitzen bereit ist. Das wäre die pessimistische Auslegung.

Wieder scheint Deinar Gedanken lesen zu können. „Sie müssen nicht schlecht von Mondheim denken. Er hat noch diverse andere Geschäfte; der Anzeiger ist eigentlich nur ein Hobby von ihm. Er tut dafür, was er kann, aber er muss halt auch alle anderen Dinge am Laufen halten. Dafür lässt er uns allen sehr viel Freiheit. Wer hier neue Ideen hat, muss nicht damit rechnen, dass sie in der allgemeinen Bürokratie kleingemahlen werden.“

Das klingt ja schon einmal absolut hervorragend. Aber natürlich muss er mir alles so schmackhaft wie möglich machen. Auf Reiseprospekten scheint auch immer die Sonne, und der Pool ist groß, sauber und einladend. Wäre das alles reine Realitätsbeschreibung, hätten die Anwälte nicht so viel mit Reiserecht zu tun. Oder mit Arbeitsrecht.

Deinar liefert mir einen anekdotenhaften Grobüberblick über diejenigen, die tagsüber die vollbeladenen Schreibtische besetzen, zeigt mir die Teeküche, erklärt zwischendrin, dass der Anzeiger erst seit einem halben Jahr existiert und langsam durch immer mehr Werbeanzeigen schon in die Gewinnphase kommt; wo er allerdings noch nicht ganz angekommen ist, wie ich aus seiner Formulierung errate. Diese Information besänftigt etwas meine Verwunderung über Mondheim. Wenn er wenigstens Geld in das Unternehmen steckt, kann man ihm seine geringe zeitliche Aufopferung leichter verzeihen.

Dann sehe ich Deinar das erste Mal verlegen um Worte. Wir stehen mitten in der erstaunlich großen Küche, mit vielen Topfpflanzen, Postern und herumstehendem bunten Krimskrams ein recht erfreulicher Anblick, wenn er auch wenig von dem eleganten Minimalismus hat, der im Magazin selbst das Klopapier dominiert. Und auf einmal – herrscht Stille. Ende der Kurzbeschreibung, und noch ist unklar, was nun kommen soll. Deinar hebt die Hände. „Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch alles erzählen soll.“

Ich muss lachen. Irgendwie gefällt mir dieser Bassstimmenbesitzer; er ist so wunderbar unkompliziert. Ist etwas peinlich, sprich es offen an, und schon findet sich ein Ausweg. „Vielleicht sagen Sie mir noch etwas darüber, was ich eigentlich hier zu tun hätte?“

„Oh je,“ entgegnet er. „Wenn ich das wüsste, wäre es leichter. Es ist einfach so, wir sind überraschend schnell gewachsen. Das ist alles noch nichts, womit man einen echten Journalisten beeindrucken könnte, aber nachdem die wirtschaftliche Seite gut anläuft, will Mondheim die redaktionellen Inhalte ausbauen. Die Anzeigen sind für ihn nur ein Mittel zur Finanzierung. Sein eigentliches Ziel ist es, den Leuten kostenlos eine Zeitung ins Haus zu bringen, die genau das tut, was die meisten anderen Zeitungen sich nicht leisten können. Die sagt, was viele denken, die kritisch nachfragt, und die auch unbequeme heiße Eisen anpackt.“

Aha – ein Idealist also. Wenn’s denn wahr ist.

„Dafür brauchen wir mehr Leute, die schreiben können. Die interessante Themen auch einmal selbst finden und nicht nur auf Anweisung arbeiten. Die einfach helfen, uns hochzubringen.“

Hier scheint mir ein kleines Missverständnis zu herrschen. Am besten kläre ich das gleich, noch bevor ich mich weiter in den Fallstricken der Versuchung verstricke. „Ich bin gar kein richtiger Journalist. Beim Magazin bin ich nur die Erotikmieze. Sie wissen das?“

Sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht. „Natürlich weiß ich das. Na und? Heißt das, Sie können über nichts anderes schreiben als Sex?“ „Das ja nun auch nicht!“ verteidige ich mich empört. „Eben. Es ist schon so, dass Mondheim, was Sie betrifft, hauptsächlich an erotischen Geschichten interessiert ist; gerade die Fortsetzungsgeschichte soll schon ein Zugpferd werden, von dem er sich einiges erhofft. Aber das wäre bei weitem nicht alles, wo Sie hier mit anpacken sollen.“

Super. Ich darf daneben auch noch über den Neujahrsball der Feuerwehr berichten oder die Eröffnung des neuen Parks. Oder einen politischen Kommentar abgeben? Die aktuelle Regierungspolitik unter sadomasochistischen Gesichtspunkten, oder so ähnlich.

Aber wovon redet der eigentlich die ganze Zeit? Das klingt ja fast so, als wolle man mich als volle Kraft anstellen; aus Philipps Andeutungen hatte ich etwas anderes entnommen.

Ich stehe da und verstehe alles überhaupt nicht. Es ist einfach zu viel passiert in den letzten Tagen. Wer soll da noch den Überblick behalten?

Immerhin hat Deinar eines erreicht – es hat mich gepackt. Noch auf dem Weg hierhin hat die typische Arroganz des immerhin dann doch fast-richtigen Journalisten gegenüber puren Werbezeitungen angehalten. Anzeigenblatt – pah!

Als ob es erstens im Magazin keine Werbung gäbe – und als ob zweitens allein die Art, wie man mich dort behandelt hat, nicht schon jeden Überlegenheitsanspruch zerkrümeln lassen würde. Inzwischen – doch, ich gebe es zu; ich weiß ganz genau, dass man mir jetzt erst einmal das Blaue vom Himmel herunterschwätzt, um mich zu ködern, und dass die ganzen Nachteile bestimmt schnell genug offenbar werden. Trotzdem hat es geklappt – ich bin geködert. Das mit der Freiheit hier, mit dem Aufbau, mit der allgemeineren Zuständigkeit – adieu Erotikmieze! Ein echter Traum.

Ein massiver Störpunkt ist allenfalls noch, was meine Ex-Kollegen über diese berufliche Entwicklung sagen werden. Das Naserümpfen kann ich mir lebhaft vorstellen. Andererseits, Erotikmieze ist ja nun auch nicht gerade eine geachtete Position, und das zeigen die meisten mir nur allzu deutlich. Von daher kann ich mich kaum verschlechtern.

„Habe ich Sie jetzt totgeredet?“ lächelt Deinar. „Dann wird es Zeit, dass wir hier herauskommen und Sie ein bisschen stärken, sonst sind Sie mir bei den Gehaltsverhandlungen nicht gewachsen.“

Gehaltsverhandlungen? Moment – soweit sind wir noch lange nicht! Das geht mir nun doch ein bisschen schnell. Wieso verfügt der über mich, als ob ich eine Ware vom Grabbeltisch wäre?

Hunger allerdings, das merke ich plötzlich, habe ich tatsächlich. Kein Wunder – das Essen ist bei der ganzen Grübelei und Arbeiterei heute wirklich ins Hintertreffen geraten. Und diese informelle Art, sich einander zu nähern, ist besonders nach der konventionell-steifen Fiesheit, die ich bei Philipp vorhin wieder einmal erlebt habe, ungeheuer wohltuend.

Deinar braucht noch ein paar Minuten, bis alles ausgeschaltet, zusammengesammelt und abgeschlossen ist. „Ihr Auto können wir stehen lassen – die Kneipe ist gleich um die Ecke,“ erklärt er noch im Hausflur. Schön, wie er sich aufdrängende Fragen beantwortet, noch bevor sie zum Problem werden können.

Das Wort Kneipe ist zwar nicht allzu vertrauenserweckend, aber nun ja. Da wird mir gerade ein Job angeboten, und dafür überstehe ich notfalls auch verbrannte Bratwurst und ölige Pommes in einer Fußballeckkneipe.

Ganz so schlimm ist das Teil dann doch nicht; obwohl es garantiert nichts ist, was ich mir für einen Besuch meiner Eltern als Essenslieferant ausdenken würde. Die Art und Weise, wie Deinar, der mit großem Hallo begrüßt wird, mich durch das laute Gewühle an einen Tisch weiter hinten führt, ist halb besitzergreifend, halb beschützend, und inzwischen bin ich zu erschöpft von all den wirbeligen Entwicklungen, die mich ohne mein eigenes Zutun durchschütteln, um mich zu entscheiden, ob ich mich darüber ärgern soll oder nicht.

Eine kleine Atempause lässt er mir, bis zwei Mineralwasser vor uns stehen. Ich genieße die Pause, schaue mich verstohlen um. Er ist ersichtlich Stammgast hier; noch immer fliegen die kleinen Ansprachen hin und her. Kein Wunder, wenn er oft so lange bei der Arbeit bleibt. Wie jemand, der dann flugs ins gemütliche, aufgeräumte Heim verschwindet und sich ein Edeldinner zubereitet, sieht er ganz bestimmt nicht aus. Anders als Philipp, von dem ich vermute, der gibt sich jeden Abend mit Kochen mehr Mühe als ich im gesamten Monat. Er ist halt einfach der ordentlichere Mensch, und das Magazin ist der ordentlichere Arbeitsplatz. Nur will man mich da nicht mehr haben. Also weg mit dem ganzen Ballast, der zu mir ohnehin nicht passt. Ich bin kein ordentlicher Mensch. Meine Wohnung und das Büro vom Anzeiger haben einiges miteinander gemein. Alles kein Vergleich zu Philipps aufgeräumtem Arbeitsraum, und seine Wohnung ist gewiss ebenso, wenn nicht schlimmer.

Verdammt noch mal, wieso geht mir eigentlich dieser blöde Hund partout nicht aus dem Kopf? Kann ich jetzt vielleicht endlich einmal aufhören, über das Arschloch nachzudenken, das sich seine eigenen Annäherungsversuche versaut, auf meine mit arroganter Herablassung reagiert, und sich ansonsten von den Chefs als verlängerter Gutsherrenarm missbrauchen lässt? Was habe ich bloß an dem gefunden? Inzwischen habe ich eine solche Wut auf ihn im Bauch, ich weiß überhaupt nicht, ob daneben noch irgendetwas an Essen hineinpasst.

Typisch – statt die immerhin dann doch eingebundene und nicht bloß laminierte oder gar ungeschützte Speisekarte zu studieren, denke ich an seine weiße Hemdbrust, der ich nur zu gerne ihre Fleckenlosigkeit gründlich vermiesen würde mit allen Farben, die ich in der Küche hier finden kann. Roter Tomatenketchup, grüner Spinat, gelbliche Ölflecken aus der Salatsauce, brauner Kaffee. Nein, noch lieber Cola – die ist noch erheblich schlechter wieder herauszukriegen. Und Rotwein natürlich.

Das gäbe einen Krach! Obwohl, nein; der bestellt sich bestimmt sofort Salz aus der Küche als Sofortmaßnahme und entschwindet dann nach Hause zur Waschmaschine, statt sich mit mir zu streiten.

Traurig, wenn man die Leute, auf die man sauer ist, auch mit noch so viel Zorn nicht einmal wütend machen kann.

„Soll ich für Sie mitbestellen?“ fragt Deinar, und auf einmal ist seine Stimme wieder so leise wie vorhin am Telefon. Hilflos nicke ich. Das ist keine gute Idee von ihm, jetzt den Netten zu spielen. Ich merke schon, wie es hinter den Augen und in der Kehle sticht.

Er nimmt mir die Karte aus der Hand. „Wenn ich Mondheim richtig verstanden habe, ist man ganz schön gemein mit Ihnen umgesprungen beim Magazin.“

Das war das falsche Stichwort; jetzt ist alles zu spät. Ich heule los wie der berühmte Schlosshund.

***

Oh Gott, ist das peinlich! Warum kullern die Krokodilstränen eigentlich nie bei den Leuten, die sie verursacht haben? Warum muss sich irgendein ganz anderer, der gar nichts damit zu tun hat, die Widrigkeit des verzögerten hysterischen Ausbruchs antun?

Außerdem ärgere ich mich maßlos über mich selbst. Wenn die Selbstbeherrschung schon reicht, die Prügel ohne Zusammenbruch einzustecken, warum reicht sie dann nicht gleich, bis ich wieder allein bin und ohne Blamage losheulen kann? Warum muss ich mich vor einem potentiellen neuen Chef gleich in der bestmöglichen Weise mit einem Heulkrampf einführen?

Etwa zwei Minuten lang hilft gar nichts; auch mein eigenes bestes Zureden nicht. Dann endlich angele ich mich mit einem kleinen Trick münchhausig-eigenhändig wieder aus dem Sumpf. Ich stelle mir vor, was Philipp sagen wird, wenn er über Mondheim die Rückkopplung über dieses aussagekräftige Vorstellungsgespräch bekommt. Und einmal ganz abgesehen von dieser Schreckensvorstellung – es ist eigentlich auch schon schlimm genug, was Mondheim selbst denken wird.

Deinar reicht mir wortlos ein Taschentuch. Kein Tempo natürlich, diese hervorragende echte Frauenwahl als Schneuzeinfänger. Nein, ein typisches, hässliches, ungebügeltes, zerknittertes, immerhin aber eindeutig sauberes Männertaschentuch in blau-grau-braun-weinrot. Große Frage: Gebe ich ihm das nachher gleich benutzt wieder, oder nehme ich es mit nach Hause, wasche und bügle es? Nicht dass ich es ihm missgönne, es nachher ordentlicher zurück in Händen zu haben als vorher. Apropos: Ich würde auch keine Taschentücher bügeln – aber was für die eigene Person okay ist, macht noch lange keinen Staat, wenn es ein anderer mitbekommt. Hätte Deinar heute Morgen beim Einpacken gewusst, wofür er das Riesenteil abends hervorziehen muss, er hätte bestimmt ebenfalls noch zum Bügeleisen gegriffen.

So, habe ich mich doch prima abgelenkt, mit dieser Nichtigkeit, oder? Noch ein bisschen Schnuffeln hier und Schniefen da, und der Anfall scheint überstanden.

Die philosophische Frage, ob es erlaubt ist, überhaupt vor anderen eine Reaktion auf eine der vielen Sauereien zu zeigen, die einem so en gros und en detail täglich im Leben begegnen, die kann jemand anderes beantworten. Mir ist die zu philosophisch – als ob sich Naturgewalten wie Tränen durch logische Überlegungen stoppen ließen. Ich mache jetzt das, was jeder andere in meiner Lage auch machen würde: So tun, als sei überhaupt nichts gewesen. Nicht ehrlich, aber hilfreich.

Na, es klappt nicht ganz; Deinar hat sich alles so nett ohne jeglichen boshaften oder schein-mitleidigen Kommentar angehört und darüber hinaus für Eindämmung der Wasserfluten gesorgt; ein leises „Danke“ muss dann ja doch sein. Sein Taschentuch stecke ich jetzt erst einmal ein; wenn ich ihm das gereinigt wiederbringen muss, habe ich auf jeden Fall einen Vorwand für ein weiteres Gespräch, sollte dieser nötig sein.

„Ich denke, ich bin jetzt wieder normal,“ verkünde ich, mein Vorsatz von gerade eben schon wieder vergessen, dass ich wortlos über die Katastrophe hinweggehen wollte. Kein Wunder, dass es mir da mit den anderen Vorsätzen von weiter weg nicht besser geht – zum Beispiel mit dem, dass Philipp mir völlig gleichgültig ist. Oh ja – vollständig. Absolut. Total gleichgültig. Ich denke nur deshalb so oft an ihn, weil ich mir das immer wieder ins Bewusstsein führen will.

Deinar zieht die Augenbrauen hoch. „Eine solche Reaktion auf eine beschissene Situation ist doch auch ganz normal. Ich finde es bewundernswert, dass Sie sich nicht in Trauer nach Hause verkriechen, sondern gleich die Suche nach einer neuen Stelle anpacken.“

Ein Lob – hach, ein Lob! Gleich geht es mir viel, viel besser. Ja, ich finde mich auch ganz toll. Alles eine Frage der Perspektive.

Aber ich habe nun wirklich keine Lust, mich hier und jetzt weiter über das böse Schicksal auszuheulen. Und ich bin sicher, Deinar hat noch weniger Lust darauf. Was genug ist, ist einfach genug – und schon nach einem halben Weinglas voller Tränen sind die Augen verquollen genug. An sich sollte ich jetzt aufs Klo gehen und meine Schminke nachbessern. Dringend!

Ich hole das Taschentuch wieder hervor – irgendwie ja doch ganz praktisch, diese großen Dinger. Die sind nicht so schnell zerknüllt und feucht; und fusseln tun sie auch nicht. Ein vorsichtiger Test ergibt, mein Mascara läuft nicht. Ist ja auch wasserfest – als ob ich es geahnt hätte! Der Puder müsste spurenfrei verschwinden, und der Lippenstift hatte sich schon im Auto wieder verzogen, so sehr habe ich erst aus Wut über Philipp, und dann aus Verzweiflung über die miese Wegbeschreibung daran herumgenagt. So schlimm kann ich also gar nicht aussehen. Dann schmiede ich das Eisen lieber gleich, so lange es heiß ist. Die Situation wird allenfalls peinlicher, wenn ich jetzt ein paar Minuten verschwinde. „Entschuldigen Sie. Wir können jetzt zur Hauptsache zurückkommen.“

Er nickt. So, als sei das völlig normal, dass ein Bewerber beim Vorstellungsgespräch erst Rotz und Schnuppen heult und dann lässig nach dem Gehalt fragt.

„Lassen Sie mich überlegen,“ sagt er, und zählt an den Fingern ab: „Einstellungstermin, Gehalt, Urlaubstage, Sonderleistungen, Arbeitszeiten? In etwa in der Reihenfolge?“ „Da fehlt noch etwas,“ erwidere ich. „Was ich …“ „Was Ihre Tätigkeit nun im einzelnen sein soll,“ fällt er mir ins Wort.

Das war es tatsächlich, was ich meinte; andererseits hat er mir die Frage eigentlich doch schon beantwortet, oder? Damit, dass sie sich nicht so richtig beantworten lässt. Ersichtlich setzt er aber zu einer weiteren Erklärung an. Die bestimmt anfängt mit „Wie ich Ihnen schon sagte …“

„Wie ich Ihnen schon sagte,“ – sic! – „so genau weiß ich das noch gar nicht. Wir arbeiten alle mehr oder weniger gerade an dem, was am eiligsten ist. Natürlich gibt es ganz grob eine gewisse Aufgabenverteilung. Jan Michel macht alles, was mit Technik zu tun hat. Korrekt nennt man das wohl Netzwerkadministrator, aber er kann auch den Kopierer reparieren, kümmert sich um die neueste Software und so weiter. Gabi Reinhard macht Kochrezepte, Schminktipps, Briefkastentante und Mode.“

Hätte mich auch gewundert, wenn ein Mann für ein solches Referat zuständig wäre. Obwohl sich die dümmlichen Ratschläge, die auf den üblichen Seiten von Frauen für Frauen stehen, bestimmt auch einer mit Pimmel aus den Fingern saugen könnte. Oder kochen die nicht? Ziehen sich nicht an? Mehr ist an Qualifikation ja meistens nicht erforderlich.

„Bernd Peters macht den Sport,“ fährt Deinar fort, „Gerlinde Leimer, Markus Abnetz und ich, wir teilen uns die Politik – ja, und dann kämen noch Sie mit der Erotik. Vielleicht eine Seite mit Ratschlägen; entweder eigene, oder Antworten auf Leserfragen, dann eine weitere mit der Geschichte. Falls Ihnen das zu wenig ist an Arbeit, können Sie ja immer dort einspringen, wo es am meisten brennt. Oder wo es Ihnen am meisten Spaß macht. Außerdem, das muss ich noch dazusagen, bei uns sind die Redakteure immer auch mit für die Werbung verantwortlich. Wer einen bestimmten Bereich hat, kümmert sich direkt um mögliche Ansprechpartner für passende Anzeigen. Wir haben zwar drei hauptamtliche Werbemenschen, aber die sind auf unsere Mithilfe angewiesen. Das kann natürlich auch bedeuten, dass Sie redaktionell über eine bestimmte Firma berichten, den Geschäftführer befragen, neue Produkte testen und solche Dinge, um jemandem das Angebot schmackhaft zu machen.“

„Oder dass ich eine Prostituierte interviewe und dabei ganz zufällig ihre Telefonnummer nenne?“ frage ich herausfordernd. Das nennt sich dann neutrale Berichterstattung, ja? Wenn man die Werbung in einen Artikel packt und dafür nicht einmal Geld kriegt, sondern nur einen Auftrag, für den man dann gleich noch einmal arbeiten muss?

So leicht ist Deinar nicht aus der Ruhe zu bringen. Philipp hätte mich an seiner Stelle bestimmt schon halb geschockt, halb tadelnd mit spitzen Augendolchen bestraft. „Warum nicht? Das wird bestimmt gerne gelesen – und so ausgefallen ist es gar nicht, dass wir uns damit Leute verprellen. Es kommt halt auf Ihr Talent an, weder plump Werbung zu machen, die nur unangenehm aufstößt, noch allzu sensationsgeil den Voyeur zu spielen. Als Qualität soll es schon noch durchgehen, was Sie schreiben.“

Aha – wenn ich aus einem so saublöden Vorschlag keine nobelpreisverdächtige Reportage mache, ist das also allein meine Schuld? Der hat ja Nerven!

Obwohl, irgendwie reizt mich das schon. Vor allem die Vorstellung, Themen anpacken zu können, die Philipp nicht einmal des Wegschnippens für Wert gehalten hätte. Wenn Deinar sicher ist, dass die Inserenten das mitmachen – bitte! Ich kann noch viel provozierender werden. Und ob ich schreiben kann, das wird er dann ja sehen. An meinem Handwerkszeug hatte man auch beim Magazin nur selten etwas auszusetzen. Dabei fällt mir ein: Ein Zeugnis muss ich mir noch besorgen. Nicht dass die mich ohne abservieren. Aber alles zu seiner Zeit. Erst den neuen Job sichern, dann den alten verlassen.

Nur, etwas stimmt mich doch kritisch. „Solche Themen – und dazu noch eine SM-Fortsetzungsgeschichte? Sind Sie sicher, das ist nicht ein bisschen zuviel des Demonstrativen? Ich meine, gut, pikante Themen bringen ebenso viele Leser wie brisante, wenn nicht mehr. Aber Sie wissen doch, wie schnell der gute Ruf versaut ist. Glauben Sie wirklich, Sie kriegen die ehrwürdige Universitätsbuchhandlung und das Feinkostgeschäft für die Oberschicht noch dazu, in Ihrem Blatt eine Anzeige zu schalten, wenn das mit solchem Zeug gefüllt ist?“

Er grinst nur. „Erstens ist es gar nicht sicher, dass die Inserenten wissen, was auf den Seiten steht, auf denen nicht ihre Anzeige zu finden ist. Zweitens legen wir nicht unbedingt Wert darauf, die oberen Zehntausend der Wirtschaft zu bedienen. Die haben die größten Ansprüche, zahlen am wenigsten, und sind am schnellsten mit dem Anwalt bei der Hand. Die Anzeigen bei uns laufen zum Großteil über persönliche Kontakte. Wirklich persönliche Kontakte, meine ich. Die meisten der Kunden kümmern sich einen feuchten Kehricht um die Artikel. Und wenn die bei den Lesern ankommen, dann ist ihnen ebenso gedient wie uns. Darauf kommt alles an. Die Sachen müssen lesbar sein; gut lesbar. Man muss sich diese Woche schon auf die Fortsetzung in der nächsten freuen. Ich will, dass die Zeiten vorbei sind, in denen solche Anzeigenblätter nur zum Einwickeln vom Biomüll dienen oder als Zusatzbelastung für die Papierabfuhr. Ich will, dass man uns liest!“

Er redet sich richtig in Eifer hinein. Warum ist Deinar mit dem Ehrgeiz nicht bei einer „richtigen“ Zeitung? Da müsste er sich mit all den Hindernissen, gegen die er so engagiert ankämpft, gar nicht erst herumschlagen.

Nein, die Frage muss ich nicht stellen. Welche normale Zeitung würde schon eine SM-Geschichte auch nur hypothetisch in Betracht ziehen? Und wenn man schon in den Randbereichen vor nichts zurückschreckt, kann ich mir in etwa vorstellen, wie die Politikartikel aussehen.

Wobei mir einfällt – ich sollte dringend versuchen, an wenigstens eine Ausgabe des berühmten Anzeigers heranzukommen. Ist beschämend genug, hier aufgetaucht zu sein ohne diese unumgänglich notwendige Vorbereitung. Was für ein Glück, dass die aufsteigende Schamröte auch als Folge des dampfenden Essens gewertet werden kann, das man gerade vor uns deponiert. Wie bin ich bloß auf die Schnapsidee gekommen, hier einfach hineinzuplatzen, ohne auch nur einen Teil meiner Hausaufgaben zu machen?

In den meisten Fällen wäre das das Ende des Vorstellungsgesprächs gewesen. Jeder Chef ist so stolz auf seinen Laden, dass er meistens gleich zu Beginn unter dem Vorwand, die Firma vorzustellen, durch geschickte Zwischenfragen versucht herauszubekommen, ob sein Gegenüber die richtigen Informationen gesammelt hat, bevor er es wagte aufzutauchen.

Wobei die meisten Manager in solchen Tests über die eigene Eitelkeit stolpern – wer konstant eifrig und wissend nickt, kommt fast immer damit durch. Herausfinden, ob der Kandidat wirklich etwas weiß oder nur so tut, das ginge nur mit einem fiesen Trick: Der Chef bringt die falschen Fakten. Dann aber ist ohnehin alles verloren. Oder würden Sie Ihren möglichen zukünftigen Vorgesetzten gleich im Vorstellungsgespräch korrigieren? Wer das tut, hat zwar seine Hausaufgaben gemacht, aber bestimmt keinen guten Eindruck. „Der Umsatz im letzten Jahr lag bei etwa 54 Millionen Euro,“ sagt der Geschäftsführer. „Nein, das ist so nicht ganz richtig,“ verbessert der hoffnungsfrohe Anwärter. „Es waren nur 53 …“

Aber mehr disqualifiziert als ich mit meiner absoluten Unahnung vom eventuell zukünftigen Arbeitgeber hat sich so jemand wiederum auch nicht. Besser das falsche wissen als gar nichts. Wie konnte ich nur so blöde sein?

Dem Himmel sei Dank für die Scholle. Die zu essen, ist wenigstens unkompliziert. Und mit vollem Mund spricht man nicht.


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